free access title sign
rights reserved icon
  • Facebook Icon
  • Twitter Icon

Covid-19 ist Wasser auf die Mühlen des EU-Grenzregimes / Naceur, Sofian Philip (Rights reserved)

Bibliographic data

Covid-19 ist Wasser auf die Mühlen des EU-Grenzregimes

Description

Author:
Naceur, Sofian Philip
Title:
Covid-19 ist Wasser auf die Mühlen des EU-Grenzregimes : Migration und Biopolitik: Droht eine neue Ära der EU-Grenzkontrollpolitik? / Sofian Philip Naceur
Edition:
Redaktionsschluss: Juli 2020
Publication:
Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2020
Language:
German
Scope:
1 Online-Ressource (13 Seiten)
Note:
Datum des Herunterladens: 12.10.2020
Series:
Online-Publikation ; 14/2020
Urban Studies:
Kws 23 Migration: Allgemeines
DDC Group:
320 Politik
URN:
urn:nbn:de:kobv:109-1-15410791
Copyright:
Rights reserved
Accessibility:
Free Access
Collection:
Population, social affairs

Contents

Table of contents

  • Covid-19 ist Wasser auf die Mühlen des EU-Grenzregimes / Naceur, Sofian Philip (Rights reserved)

Full text

ONLINE-PUBLIKATION Sofian Philip Naceur Covid-19 ist Wasser auf die Mühlen des EU-Grenzregimes Migration und Biopolitik: Droht eine neue Ära der EU-Grenzkontrollpolitik? SOFIAN PHILIP NACEUR lebt und arbeitet als freier Journalist in Tunis. Für Print- und Online-Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz schreibt er meist über Entwicklungen in Ägypten, Tunesien und Algerien sowie über Themen rund um Migration und EU-Grenzauslagerungspolitik in Nordafrika. Zwischen 2012 und 2018 lebte er in Kairo. IMPRESSUM ONLINE-Publikation 14/2020 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Gabriele Nintemann Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2567-1235 · Redaktionsschluss: Juli 2020 Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin Layout/Satz: MediaService GmbH Druck und Kommunikation INHALT Einführung – Grenzkontrollpolitik im Kontext von Pandemien 4 Maltas neue Rückführungspraxis 6 Quarantäne und «schwimmende Hotspots» 7 Ausbau des Grenzregimes im Mittelmeerraum 8 Globale Mobilität und EU-Grenzregime nach Corona 9 Migration und Biopolitik – ein neuer «eiserner Vorhang» 9 Pandemien und Grenzschließungen 10 Seuchen als Projektionsfläche 11 Ausblick – Migration und Grenzregime nach Covid-19 12 SOFIAN PHILIP NACEUR COVID-19 IST WASSER AUF DIE MÜHLEN DES EU-GRENZREGIMES MIGRATION UND BIOPOLITIK: DROHT EINE NEUE ÄRA DER EU-GRENZKONTROLLPOLITIK? Noch ist ungewiss, welche mittel- und langfristigen Auswirkungen die Corona-Pandemie auf soziale Ungleichheiten, Volkswirtschaften oder Migrationsbewegungen haben wird. Ökonomische Verwerfungen und soziale Spannungen verschärfen sich vielerorts jedoch bereits massiv. Während einige Stimmen noch beschwichtigend argumentieren, bezeichnen andere Covid-19 schon seit Monaten als weltgeschichtlich einschneidendes Ereignis und prophezeien angesichts noch bevorstehender sozialer und wirtschaftlicher Umbrüche und Krisenfolgen sogar den Kollaps ganzer Volkswirtschaften. Nachdem der Historiker Paul Nolte von der Freien Universität Berlin in einem Interview die Krise als Zäsur bezeichnet und sie vom Ausmaß her mit den Anschlägen vom 11. September, dem Mauerfall und dem Zweiten Weltkrieg verglichen hatte,1 antwortete die tageszeitung mit einer nüchternen Gegenrede: Noltes Aufzählung sei entlarvend, zeige sie doch, was Zäsuren ausmachen: «Sie verändern das Machtgefüge auf der Welt.» Corona befeuere aber politische Entwicklungen nicht, sie betäube sie, so die tageszeitung.2 Ob die Pandemie das Machtgefüge auf der Welt zu verändern vermag, ist in der Tat fraglich. Politische Entwicklungen befeuert sie aber sehr wohl. Bisher fungiert die Krise vor allem als kraftvoller Brandbeschleuniger, sie heizt politische und soziale Konflikte zusätzlich an und wird auch politisch instrumentalisiert. In ihrem Windschatten werden gezielt Maßnahmen vorangetrieben und durchgesetzt, die in Abwesenheit eines solchen Gesundheitsnotstands deutlich heftigere Widerstände ausgelöst hätten und derart rasch kaum umsetzbar gewesen wären. Von derlei Dynamiken stark betroffen ist die Migrations- und Grenzauslagerungspolitik der Europäischen Union (EU), dient Covid-19 europäischen Regierungen doch als Rechtfertigung dafür, noch restriktiveren Grenzkontrollen den Weg zu ebnen und mit Techniken der Abschottung zu hantieren, die nach der Krise Bestand haben und neue Maßstäbe setzen könnten. EINFÜHRUNG – GRENZKONTROLLPOLITIK IM KONTEXT VON PANDEMIEN Schon die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 war ein wirkungsmächtiger Katalysator für die Grenzkontrollpolitik der EU. Die Abschottung der EU-Außengrenzen und die Verminderung der irregulären Migration waren bereits zuvor prioritär, seit 2015 werden sie jedoch noch aggressiver vorangetrieben. Die EU-Kommission erklärte schon 2019 stolz, in den vergangenen vier Jahren seien in Sachen Migrationsmanagement und Grenzkontrolle «mehr Fortschritte» gemacht worden «als in den 20 Jahren zuvor».3 Die Covid-19-Krise verstärkt diese Dynamik noch zusätzlich und verschafft der EU neue Spielräume, um das Grenzregime weiter auszubauen. Seit Malta und Italien ihre Häfen als «unsicher» deklariert haben, experimentieren beide Staaten mit sogenannten schwimmenden Hotspots. Während Italiens Regierung abermals zivile Seenotrettungsschiffe unter fadenscheinigen Begründungen in italienischen Häfen festsetzte, wurde an der griechisch-türkischen und der kroatisch-bosnischen Grenze mit scharfer Munition auf Flüchtende geschossen. Maltas Staatsführung heuerte private Fischkutter an, um auf See aufgegriffene Menschen in das vom Krieg zerrissene Libyen zurückzubringen, und schuf damit einen Präzedenzfall, der internationales Flüchtlings- und Seerecht verletzt und weiter auszuhöhlen droht. Die Notrufhotline Alarmphone kritisierte die in der Mittelmeerregion vorangetriebenen Maßnahmen scharf: Die Gesundheitskrise werde von europäischen Behörden benutzt, um «schon existierende Praktiken der Nichtunterstützung auf See» zu «normalisieren». Im zentralen Mittelmeer werde dadurch «aktiv» eine «gefährliche Rettungslücke» kreiert.4 1 Paul Nolte im Interview, NDR, 28.6.2020, nachzuhören unter: www.ndr.de/kultur/Steckt-unser-Zusammenhalt-in-der-Krise,gedankenzurzeit1594.html. 2 Böldt, Daniel: Gar nichts wird sich ändern, in: die tageszeitung, 3.5.2020, unter: https://taz.de/Das-Coronavirus-und-die-Weltgeschichte/!5679422/. 3 EU-Kommission: A step-change in migration management and border security, 2019, unter: https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/ what-we-do/policies/european-agenda-migration/20190306_managing-migration-factsheet-step-change-migration-management-border-securitytimeline_en.pdf. 4 Alarmphone: The Covid-19 excuse, Homepageeintrag, 11.4.2020, unter: https://alarmphone.org/en/2020/04/11/the-covid-19-excuse/. 4 «Die Verschärfung von Abschottungsmaßnahmen wird derzeit mit der Begründung legitimiert, dass angesichts der Pandemie die eigene Bevölkerung geschützt werden muss. Die Einreise möglicherweise ansteckender Personen, die die eigene Bevölkerung potenziell und unmittelbar in Gefahr bringen könnten, soll um jeden Preis verhindert werden. Diese Strategie wird sich weiter verfestigen, auch da es in dieser Frage eine Kontinuität gibt», unterstreicht Maurice Stierl von der Warwick University in Großbritannien im Gespräch mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In der Tat droht nach der Corona-Krise gar eine Ausweitung dieser harten Linie. Zwar sind seit Juni wieder zivile Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer präsent, sodass die Rettungslücke vorerst geschlossen ist, doch Italien und Malta behindern das Anlanden der Schiffe in ihren jeweiligen Häfen weiterhin oder zögern es zumindest heraus. An historischen Analogien mangelt es nicht, zählt der Ausbau von Grenzkontrollen doch schon lange zum Standardrepertoire staatlicher Pandemiebekämpfung. Die Grenzschließungen seit dem Covid-19-Ausbruch folgen einem «jahrhundertealten Handbuch», das sich mindestens bis zum Schwarzen Tod – der Pest – im 14. Jahrhundert zurückverfolgen lasse, schreibt Charles Kenny im Online-Magazin Politico.5 Krankheiten einzudämmen sei damals eine der ersten Rechtfertigungen für Grenzkontrollen gewesen. Die Geschichte krankheitsbedingter Grenzschließungen liefere aber ernüchternde Lehren: «Grenzkontrollen neigen dazu, deutlich länger zu überdauern als die Krise, die sie verhindern sollten, auf Kosten von Handel und Bewegungsfreiheit», so Kenny. «Neuere Bemühungen zur Ausrottung von Krankheiten zeigen, dass verlängerte Grenzkontrollen eher ein Ausdruck xenophober Politik sind als eine dauerhafte Lösung gegen eine infektiöse Bedrohung.» Corona schließt der Autor hier explizit mit ein. In der Tat hat xenophobe bzw. rassistische Stimmungsmache im Kontext der Corona-Krise vielerorts wieder Hochkonjunktur. Einige der im Namen der Corona-Eindämmung gegen Geflüchtete verhängten oder nicht durchgeführten Maßnahmen sind nicht nur gesundheitspolitisch höchst fragwürdig, sondern bedienen sich teils offen rassistischer Rhetorik. Während Maltas Regierung Geflüchtete nach Libyen zurückschicken ließ, wohl wissend, dass ihnen dort die Inhaftierung in Haftanstalten droht, in denen weder Infektionsprävention noch eine adäquate Gesundheitsversorgung gewährleistet ist, wird die Gefahr weiterer Ansteckungen durch die Weigerung zahlreicher EU-Staaten, Zehntausende in griechischen Flüchtlingslagern eingesperrte Menschen zu evakuieren, sogar unmittelbar. Malaysia ist Schauplatz einer Welle xenophober Stimmungsmache gegen Flüchtlinge, die zuletzt zu Hunderten verhaftet wurden – legitimiert durch den Gesundheitsnotstand.6 Auch in Bosnien-Herzegowina hetzten Regierungsoffizielle im Zuge der Pandemie offen gegen Geflüchtete und forderten sogar Massenabschiebungen.7 Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen und betrifft sowohl europäische Länder als auch Staaten wie Ägypten, wo sich rassistische Ressentiments gegen Asiat*innen jüngst massiv verschärft hatten. Eine weitere Zuspitzung einer gegen Geflüchtete gerichteten Politik und Stimmungsmache in Zusammenhang mit Covid-19 ist nur eine Frage der Zeit. Noch ist Europas extreme Rechte im tagespolitischen Diskurs weniger stark zu hören, sie dürfte aber früher oder später versuchen, sich die Krise zunutze zu machen. Die gesundheitlichen Gefahren von Covid-19 und der von der extremen Rechten geschürte Rassismus drohen vermischt und zu einer wirkungsvollen neuen Projektionsfläche für das Ausgrenzen von Einwanderer*innen zu werden. Ein solches Zusammenspiel zwischen rechtspopulistischer Instrumentalisierung der Corona-Krise und gesundheitspolitisch motivierten Rufen aus der politischen Mitte nach schärferen Grenzkontrollen würde massive Auswirkungen auf die Migrationspolitik in der EU haben. Eine Corona-getriebene, explizit gegen neu ankommende Geflüchtete gerichtete Stimmungsmache dürfte ähnlich katalysierende Effekte auf die EU-Grenzkontrollpolitik haben wie die «Flüchtlingskrise» 2015. Im Folgenden soll angesichts derlei möglicher Entwicklungen ein Ausblick darauf gewagt werden, wie sich die Grundlinien der EU-Migrations- und Grenzauslagerungspolitik nach Corona verändern könnten. Deren Verschärfung wird zwar bereits seit Jahrzehnten sukzessive vorangetrieben, ihre Techniken und Praktiken werden sich jedoch angesichts der Covid-19-Pandemie modifizieren und zunehmend gesundheits- und biopolitische Facetten bekommen. Daher soll zunächst dargelegt werden, wie die Pandemie bisher als Experimentierfeld für neue Abschottungspraktiken genutzt wurde. Ein Blick auf eine jüngst vom International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) veröffentlichte Artikelreihe erlaubt Rückschlüsse darauf, mit welchen Maßnahmen «reguläre» und «irreguläre» Migration in die EU künftig zusätzlich reglementiert und die Grenzauslagerung weiter vorangetrieben werden könnte. Ein historischer Rückblick auf den Zusammenhang zwischen Krankheiten und der Einführung strikterer Grenzkontrollen soll die Kontinuität solcher Entwicklungen illustrieren und die Gefahr aufzeigen, wie der Ausbau des EU-Grenzregimes künftig rhetorisch und propagandistisch legitimiert werden könnte. 5 Kenny, Charles: Pandemics close borders – and keep them closed, Online-Artikel, Politico, 25.3.2020, unter: www.politico.com/news/ magazine/2020/03/25/trump-coronavirus-borders-history-plague-146788. 6 Ahmed, Kaamil: Malaysia cites Covid-19 for rounding up hundreds of migrants, in: The Guardian, 2.5.2020, unter: www.theguardian.com/globaldevelopment/2020/may/02/malaysia-cites-covid-19-for-rounding-up-hundreds-of-migrants. 7 Global Detention Project: Covid-19 global immigration detention platform, Homepageeintrag, unter: www.globaldetentionproject.org/covid-19immigration-detention-platform#bosnia. 5 MALTAS NEUE RÜCKFÜHRUNGSPRAXIS Seit Beginn der Corona-Krise setzt Europas politische Führung auf eine zunehmend eskalierende Strategie in der Migrations- und Abschottungspolitik. Während sich Länder wie Deutschland weiter konsequent einer nachhaltigen gesamteuropäischen Lösung in Asyl- und Aufnahmefragen von im Mittelmeer geretteten Geflüchteten verweigern, testen Malta und Italien unter dem Deckmantel des Gesundheitsnotstands systematisch die Grenzen des Möglichen aus – auch, um den Druck auf andere EU-Staaten zu erhöhen. Die von den Regierungen in Rom und Valletta vorangetriebenen neuen Praktiken drohen das internationale Flüchtlings- und Seerecht weiter auszuhöhlen und könnten einen Vorgeschmack auf bevorstehende neue Realitäten im zentralen Mittelmeerraum geben. Anfang April hatten beide Staaten ihre Häfen für «unsicher» erklärt, um vor allem aus Libyen per Boot über das Mittelmeer fliehenden Menschen die Anlandung verweigern zu können oder zumindest zu erschweren. Die Regierungen beider Länder erklärten, angesichts der Pandemie gebe es derzeit keine Kapazitäten, um Geflüchtete aufzunehmen. «Während eines Gesundheitsnotstands ist dieses Land kein sicherer Hafen für Migrant*innen», so Maltas Premierminister Robert Abela.8 «Es ist kontraproduktiv, Häfen und Flughäfen für Tourist*innen zu schließen, aber dann Häfen für irreguläre Migrant*innen zu öffnen», sagte Abela, der hier unverblümt Tourist*innen und vor Elend und Krieg in Libyen fliehende Menschen verglich. Dass Malta es mit dieser Ankündigung ernst meint, zeigt vor allem eine Maßnahme der Regierung, die die Justiz noch beschäftigen dürfte: Unmittelbar nach der Hafenschließung Anfang April war ein in Libyen aufgebrochenes Boot mit 63 Geflüchteten in Seenot geraten und hatte die Notrufhotline Alarmphone informiert. Die Organisation kontaktierte die maltesischen, italienischen und libyschen Behörden und forderte sie zur Rettung der Gruppe auf. Nachdem das Boot tagelang durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex aus der Luft beobachtet worden war, Rettungsversuche durch die Küstenwachen der drei Staaten aber ausblieben, nahmen private Fischkutter die Insassen auf und brachten sie nach Libyen. Zwölf Menschen ertranken oder verdursteten während der Odyssee, manche von ihnen kurz nach der Rettung an Bord der Fischkutter. Die 51 Überlebenden wurden in eine Haftanstalt in Libyens­ Hauptstadt Tripolis überführt, in der sie offenbar bis heute interniert sind. Nach zweiwöchigen Spekulationen über den genauen Hergang der Operation gab Abela schließlich öffentlich zu, private Fischkutter mit der Rückführung der 51 Menschen nach Libyen beauftragt zu haben. Es sei kein Push-Back, sondern eine Rettungsaktion gewesen. «Maltas Häfen sind geschlossen, aber wir haben die Rettung koordiniert und sichergestellt, dass die Menschen in einen offenen Hafen gebracht werden», so Abela.9 Die New York Times spricht von insgesamt drei Booten, die die Regierung mit der Rückführung beauftragt haben soll.10 Das Flüchtlingsboot war in internationalen Gewässern, aber innerhalb der maltesischen Such- und Rettungszone (SAR) in Seenot geraten. Nach internationalem Seerecht waren maltesische Behörden für die Schiffbrüchigen verantwortlich. Doch die Regierung in Malta streitet das ab. Malta sei nur für die Rettung, nicht für die Aufnahme der Menschen zuständig gewesen, erklärte sie. Seither steht Abelas Regierung im Kreuzfeuer der Kritik. Mit dem Anheuern privater Fischkutter habe sie das Gesetz umgangen, so ein Rechtsexperte in der Times of Malta.11 Der Regierung wird vorgeworfen, dabei geholfen zu haben, Menschen wissentlich in ein Land gebracht zu haben, in dem ihnen der Tod oder Misshandlung durch Dritte drohe. Malta habe zwar die Zusätze der SAR-Konvention von 2004 nicht unterzeichnet und ratifiziert, sei aber trotzdem an das Gebot gebunden, in Seenot gerettete Menschen an einen «sicheren Ort» zu bringen, heißt es in einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung.12 Dies müsse nicht zwangsläufig das eigene – in diesem Fall also das maltesische – Staatsterritorium sein, Malta sei jedoch verpflichtet gewesen, einen «sicheren Ort» für die 51 Überlebenden zu finden. Libyen gelte aber keineswegs als «sicher», so die Studie. Die Maßnahme verstoße daher gegen internationales Recht und das Non-Refoulement-Gebot, das in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und der Europäischen Konvention für Menschenrechte verankert ist. Malta hat beide Verträge unterzeichnet und ratifiziert. Die deutsche Bundesregierung erklärte derweil im Mai in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag, «mit der Anweisung durch die maltesische Seenotrettungsleitstelle an ein maltesisches Handelsschiff zur Rettung von Menschen aus Seenot ist Malta seinen seevölker- 8 Maltese PM Robert Abela says he is «under investigation» for migrant deaths, Online-Artikel, The Straits Times, 19.4.2020, unter: www.straitstimes. com/world/europe/maltese-pm-robert-abela-says-he-is-under-investigation-for-migrant-deaths. 9 Xuereb, Matthew: Times of Malta Abela admits coordinating private boats that returned migrants to Libya, in: Times of Malta, 1.5.2020, unter: https:// timesofmalta.com/articles/view/abela-admits-coordinating-private-boats-that-returned-migrants-to.789362. 10 Kingsley, Patrick/Willis, Haley: Latest tactic to push migrants from Europe? A private, clandestine fleet, in: The New York Times, 30.4.2020, unter: www. nytimes.com/2020/04/30/world/europe/migrants-malta.html. 11 Xuereb, Matthew: Was returning migrants to Libya illegal? Experts are split, in: Times of Malta, 2.5.2020, unter: https://timesofmalta.com/articles/view/ was-returning-migrants-to-libya-illegal-experts-are-split.789485. 12 Farahat, Anuscheh/Markard, Nora: Closed ports, dubious partners: The European policy of outsourcing responsibility, hrsg. von der Heinrich-BöllStiftung, Brüssel, 2020, unter: https://eu.boell.org/sites/default/files/2020-05/HBS-POS%20study-A4_25-05-20-2.pdf. 6 rechtlichen Verpflichtungen nachgekommen».13 Die Regierung in Berlin stellt sich damit explizit hinter Maltas jüngst erprobte Praxis, private Akteure für Push-Backs von im Mittelmeer in Seenot geretteten Geflüchteten einzuspannen, durch die Malta versucht, internationales See- und Flüchtlingsrecht zu umgehen. QUARANTÄNE UND «SCHWIMMENDE HOTSPOTS» Unterdessen kommen Geflüchtete nach wie vor regelmäßig in Malta und Italien an. Unter dem Deckmantel der Pandemie experimentieren beide Staaten mit «schwimmenden Hotspots». Während Italien neu Ankommende für eine zweiwöchige Quarantäne auf Booten unterbringt, bevor sie an Land gelassen werden, lässt Malta Geflüchtete sogar außerhalb maltesischer Hoheitsgewässer auf Booten ausharren und verweigert – mit Ausnahme einiger Frauen und Minderjähriger – ihre Aufnahme auch nach Ende einer Quarantäne. Auf dem Höhepunkt der Pandemie wurden 425 Menschen auf diese Weise bis zu fünf Wochen lang festgehalten. Anfang Juni erklärte sich die maltesische Regierung bereit, einige dieser Menschen in Malta an Land gehen zu lassen, nachdem Proteste der Geflüchteten auf einem der Boote zu eskalieren drohten. Trotz einer Entspannung der Corona-Krise setzt Valletta jedoch bis heute auf die Nutzung «schwimmender Hotspots». Die Regierungen Maltas und Italiens bezeichneten die Maßnahme bislang zwar als «Übergangslösung», doch es ist offen, ob diese Praxis nach Ende der Corona-Krise wirklich wieder konsequent aufgegeben bzw. nicht früher oder später wieder aufgenommen wird.14 Paolo Cuttitta von der Université Sorbonne Paris Nord verweist in diesem Kontext darauf, dass die von Italien erlassene Quarantänepflicht für Einreisende zu Beginn der Corona-Krise ausschließlich für neu angekommene Migrant*innen erlassen wurde, die von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) auf See gerettet wurden: «Damals – also im März – galt eine zwangsweise Quarantäne sonst nur für jene, die krank bzw. positiv auf Covid-19 getestet waren. Für alle anderen aus dem Ausland Einreisenden gab es keine solche Quarantänepflicht», erklärt Cuttitta im Gespräch mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Das Einrichten «schwimmender Hotspots» sei gefährlich, «da sich die Praktik nach der Pandemie als Norm durchsetzen könnte», meint der auf EU-Migrations- und Grenzauslagerungspolitik spezialisierte Akademiker. Italiens Regierung geht derweil auch weiterhin gegen von NGOs betriebene Seenotrettungsschiffe vor. Im Mai setzte sie die von der deutschen Organisation See Eye betriebene «Alan Kurdi» nach einem Rettungseinsatz im Hafen von Palermo fest. Nachdem die während dieses Einsatzes geretteten Menschen das Schiff verlassen hatten, untersagten die Behörden diesem das erneute Auslaufen. Bei einer Kontrolle seien technische und betriebliche Mängel an dem Boot festgestellt worden. Die Behörden hätten dessen Eignung für die Seenotrettung sogar grundsätzlich infrage gestellt, so Sea Eye gegenüber der Süddeutschen Zeitung.15 Während das spanische Rettungsschiff «Aita Mari» schon seit April in einem italienischen Hafen festgesetzt wird, konnte die «Alan Kurdi» im Juni wieder auslaufen, könnte jedoch dazu gezwungen sein, künftig von einem spanischen Hafen aus zu operieren. Die lange Blockade in Palermo stellt die NGO zudem vor erhebliche finanzielle Schwierigkeiten.16 Durch all diese Maßnahmen sei im zentralen Mittelmeer ein «Rettungsvakuum» entstanden, bestätigt Maurice Stierl von der Warwick University gegenüber der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dies betreffe vor allem internationale Gewässer, die außerhalb der maltesischen und italienischen SAR-Zone liegen. Im Juni entspannte sich die Lage allerdings, stachen mit den von deutschen und italienischen NGOs betriebenen Booten «Mare Jonio», «Sea Watch 3» und «Ocean Viking» doch erstmals wieder zivile Rettungsschiffe in See. Die zuvor wochenlang vorherrschende Rettungslücke ist damit vorerst wieder geschlossen. Doch auch wenn die italienische Regierung die Restriktionen, die sie gegen die NGOs verhängt hatte, im Juni partiell lockerte, ist ihr Umgang mit den NGO-Booten inkonsistent und wirft Fragen auf. Die 67 von der «Mare Jonio» in Seenot aufgegriffenen Menschen wurden nach ihrer Ankunft in einem italienischen Hafen umgehend in ein Quarantänezentrum an Land gebracht, während die 211 von der «See Watch 3» Geretteten für die Zwangsquarantäne auf einem Boot untergebracht wurden. 13 Deutscher Bundestag: Drucksache 19/19357, 20.5.2020, unter: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/193/1919357.pdf. 14 Agius, Matthew: All four boats carrying 425 asylum seekers to dock in Malta, in: Malta today, 6.6.2020, unter: www.maltatoday.com.mt/news/ national/102799/captain_morgan_migrant_protest_four_boats_dock#.Xty3ed9fg5l. 15 Italien setzt Rettungsschiff «Alan Kurdi» fest, in: Süddeutsche Zeitung, 6.5.2020, unter: www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-mittelmeer-alankurdi-1.4898774. 16 Sea Eye: Sea Eye successfully frees rescue ship Alan Kurdi, Homepageeintrag, 26.6.2020, unter https://sea-eye.org/en/sea-eye-successfully-freesrescue-ship-alan-kurdi/. 7 AUSBAU DES GRENZREGIMES IM MITTELMEERRAUM Der 2015 etablierte Status quo im Mittelmeer dürfte dennoch endgültig passé sein, steuert die EU im Kontext der Covid-19-Pandemie doch auf eine neue Eskalationsstufe ihrer Grenzkontrollpolitik zu. Vor allem Malta und Italien – aber auch Griechenland – versuchen derzeit, das internationale See- und Flüchtlingsrecht proaktiv aufzuweichen, und schieben sich Geflüchtete sogar gegenseitig zu. Maltas Küstenwache hatte Berichten zufolge ein im Mittelmeer aufgegriffenes Boot mit Treibstoff und GPS-Daten versorgt und angewiesen, nach Italien weiterzufahren, während Griechenland systematisch Rettungen verweigert und illegale Push-Backs in die Türkei durchführt.17 Die Krise wird teils gezielt instrumentalisiert, um das Grenzregime im Mittelmeer auch langfristig zu verstärken und mittels immer rigiderer Praktiken neue Realitäten zu schaffen. Der Gesundheitsnotstand bietet den Regierungen der genannten Staaten dabei die notwendige Rückendeckung, um selbst höchst kontroverse Maßnahmen ohne große Widerstände vonseiten der Öffentlichkeit durchdrücken zu können. Maltas früherer Premierminister Joseph Muscat und Italiens rechtspopulistischer Ex-Innenminister Matteo Salvini hatten bereits 2018 die Häfen ihrer Länder zeitweilig für Geflüchtete geschlossen, doch heute gebe es eine deutlich höhere Akzeptanz in der Bevölkerung für eine solche Politik, der damit noch weniger im Wege stehe als zuvor, meint Maurice Stierl. Die Politik des Nicht-Retten-Müssens habe sich schon unter Salvini massiv verstärkt. Im Kontext der Corona-Pandemie nehme diese Linie jedoch ganz neue Dimensionen an, so der Migrationsforscher. Die jüngsten Maßnahmen hätten angesichts der Abwesenheit ziviler Seenotrettungsschiffe im zentralen Mittelmeer auch zur Folge, dass es weniger Zeug*innen für die Auswirkungen der EU-Politik an den Außengrenzen gebe, erklärt er. Stierl erwartet einen weiteren Ausbau des Grenzregimes nach Ende der Corona-Krise. Die Luftüberwachung des Mittelmeeres durch Frontex und die neu lancierte EU-Militärmission «IRINI» (Griechisch: «Frieden») werde zuungunsten maritimer Einheiten ausgebaut. Auch die Hochrüstung nordafrikanischer Staaten – vor allem der sogenannten libyschen Küstenwache, aber auch Tunesiens – dürfte intensiviert werden. Im April einigten sich die EU-Staaten darauf, die «libysche Küstenwache» mit zusätzlichen 15 Millionen Euro unterstützen zu wollen. Die Gelder waren als Teil eines milliardenschweren Finanzpakets zur Bewältigung der Krisenfolgen bereitgestellt worden. Dabei handelt es sich zwar um eine vorläufige Mittelzuweisung, sie zeigt aber, dass die EU im Rahmen ihrer Corona-Krisenpolitik die Grenzabschottung explizit mit einschließt.18 Der Migrationsforscher Paolo Cuttitta stellt derweil die Motive von Italiens Regierung in ein etwas anderes Licht. Er habe nicht den Eindruck, dass sie die Corona-Krise für die Verschärfung der Grenzabschottung gezielt instrumentalisiere. Die Beschlagnahmung der Rettungsschiffe «Alan Kurdi» und «Aita Mari» durch italienische Behörden sei zwar schlimm, so Cuttitta, er glaube jedoch, es handele sich bei dieser Maßnahme «weniger um eine Instrumentalisierung der Corona-bedingten Konjunktur als vielmehr um eine Reaktion auf die Corona-bedingte Konjunktur»: «Die Regierung hat Angst davor, dass immer mehr Menschen ankommen – entweder durch Rettungen oder mit eigenen Booten im Hafen von Lampedusa. Das könnte nicht nur praktische, sondern auch politisch unerfreuliche Konsequenzen nach sich ziehen.» Vor allem «aus Angst, Ex-Innenminister Salvini würde sonst tagtäglich gegen die ‹Regierung der Schmugglerfreunde› wettern und in den Meinungsumfragen rasch wieder an Popularität und Unterstützung gewinnen», reagiere Italiens Regierung derzeit mit «drastischen Maßnahmen». Unabhängig von den konkreten Motiven könnten neue Praktiken wie das Einsetzen «schwimmender Hot­ spots», das Outsourcing von Rückführungen nach Libyen an private Akteure, strengere Anlanderegeln für in europäischen oder internationalen Gewässern aufgegriffene Menschen und die Behinderungen der zivilen Seenotrettung neue Standards setzen. Schon im März hatte die deutsche Regierung zwei Schifffahrtsverordnungen verschärft und damit ein erneutes Auslaufen kleinerer Boote deutscher Seenotrettungs-NGOs vorerst praktisch verhindert.19 Maltas jüngst getestete neue Rückführungspraxis dürfte zwar vor europäischen Gerichten angefochten werden. Doch selbst wenn derlei Vorstöße Erfolg haben sollten: Die EU-Grenzabschottungspolitik hat sich in den letzten 30 Jahren als äußerst anpassungsfähig erwiesen und wird auch im Falle eines Urteils gegen Malta unter dem Deckmantel von Covid-19 weiter massiv ausgebaut werden. 17 Alarmphone: Malta’s dangerous manoeuvres at sea, Homepageeintrag, 20.5.2020, unter: https://alarmphone.org/en/2020/05/20/maltas-dangerousmanoeuvres-at-sea/?post_type_release_type=post. 18 Nielsen, Nikolay: EU shores up Libyan coast guard amid Covid-19 scare, Online-Artikel, EU Observer, 24.4.2020, unter: https://euobserver.com/ coronavirus/148163. 19 Jakob, Christian: «Neuer moralischer Tiefpunkt», in: die tageszeitung, 9.6.2020, unter: https://taz.de/Seenotrettung-im-Mittelmeer/!5688110/. 8 GLOBALE MOBILITÄT UND EU-GRENZREGIME NACH CORONA Momentan sinken die Corona-Infektionsraten in Europa, Restriktionen werden zurückgefahren oder gar aufgehoben. Die gesundheitspolitischen Gefahren sind jedoch nicht gebannt, droht doch früher oder später eine zweite Infektionswelle. Das Virus breitet sich zudem derzeit in Südamerika und Afrika weiter massiv aus. Viele der auferlegten Beschränkungen werden daher mittel- oder gar langfristig Bestand haben. Die Pandemie hat auch deshalb das Potenzial, die Rahmenbedingungen für globale Mobilität grundlegend und auf lange Sicht zu verändern. Das wird nicht nur Einreiseregularien massiv beeinflussen, sondern auch die «reguläre» und «irreguläre» Migration. Deren Handhabung wird künftig von einer gesundheitspolitischen Vorsorgepflicht geprägt und einer Vielzahl neuer Kontrollmechanismen und Beschränkungen unterworfen sein, die sich zunehmend an gesundheits- und biopolitischen Anforderungen orientieren werden. Covid-19 ist Wasser auf die Mühlen des EU-Grenzregimes und bietet eine zusätzliche Rechtfertigung für den Ausbau der migrations- und sicherheitspolitischen Kooperation mit afrikanischen Staaten. Seit Ausbruch der Pandemie ist es Praxis, die «irreguläre» Migration nicht mehr nur aus identitäts- oder ordnungspolitischen Gründen einzuschränken, sondern auch aufgrund von gesundheitspolitischen Bedenken. Welche mittel- und langfristigen Auswirkungen Corona auf Reiseregularien, Grenzkontrollen und das EU-Grenzregime konkret haben wird, ist Spekulation. Allerdings gibt eine kürzlich vom ICMPD veröffentlichte Artikelreihe20 Hinweise darauf, wie sich diese Bereiche nach Covid-19 verändert könnten. Die Prognosen des ICMPD sind durchaus ernst zu nehmen, gilt die in den 1990er Jahren gegründete Organisation mit Sitz in Wien doch als einflussreiche Denkfabrik der EU-Grenzauslagerungs- und Migrationspolitik. Sie ist ein zentraler Akteur in den Bereichen EU-Migrationskontrolle und -management und in vielfältiger Form an der Weiterentwicklung des EU- Grenzregimes beteiligt.21 Das ICMPD, dem sich Deutschland erst im Mai 2020 als 18. Mitgliedsstaat offiziell angeschlossen hat,22 bewirbt seine Expertise in Fragen rund um Grenzmanagement, «Verhinderung und Eindämmung von irregulärer Migration», Rückführungen oder Arbeitsmigration explizit auf seiner Homepage.23 Die Organisation bietet Beratungs- und Koordinierungsdienstleistungen an und ist ein Schlüsselpartner der EU bei der Umsetzung von Grenzkontroll- und -managementprojekten in Afrika. Das ICMPD spielt bei der Implementierung von Projekten, die vom EU-Treuhandfonds für Afrika (EUTFA)24 finanziert werden, eine federführende Rolle, ist in diesem Rahmen mit Grenzabschottungsprogrammen in Marokko und Tunesien beauftragt und war in die Aufrüstung der «libyschen Küstenwache» involviert. MIGRATION UND BIOPOLITIK – EIN NEUER «EISERNER VORHANG» Schon der erste in der Reihe erschienene Text des ICMPD-Beraters Hugo Brady lässt aufhorchen.25 Der Weg zurück aus dem globalen Mobilitäts-Shutdown werde nicht einfach, so Brady, der ein Zukunftsszenario an die Wand malt, in dem die Rahmenbedingungen für «reguläre» und «irreguläre» Migration kräftig umgekrempelt sind. Es dämmere eine «neue Ära von Biosicherheit», die die Art und Weise verändern werde, in der sich Menschen bewegen, schreibt er. Auch nach der Entwicklung eines Impfstoffs sei es wahrscheinlich, dass sich Staaten vermehrt auf vorbeugende Maßnahmen stützen werden. Dazu könnten digitale Kontaktverfolgung, die Überwachung von Gesundheitszuständen oder das Verknüpfen von Reisegenehmigungen mit der freiwilligen Preisgabe von Gesundheitsangaben gehören. Im Umgang mit anderen Ländern sei anzunehmen, dass Staaten bei der Lockerung von Grenzkontrollen und bei den Visabestimmungen künftig verstärkt auf einen «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser»-Ansatz setzen, statt bloße Zusicherungen zu akzeptieren. «Angesichts weltweit eingefrorener Visaprozeduren wird die Mobilität zwischen der entwickelten und der sich entwickelnden Welt einem neuen eisernen Vorhang ähneln», so Brady. Dies werde zu einer «frischen Nachfrage nach Schmuggeldiensten durch irreguläre Migrant*innen» führen. Der Menschenschmuggel werde deutlich riskanter und teurer. Brady prophezeit eine Null-Toleranz-Politik gegenüber «irregulärer Migration» und glaubt, dass Grenzübertritts- und Asylprozeduren für jene, die «spontan» ankommen, «beschwerlicher und 20 ICMPD: Expert voice series, Online-Artikelserie, April bis Juni 2020, unter: www.icmpd.org/news-centre/expert-voice-series/. 21 Georgi, Fabian: Migrationsmanagement in Europa, Saarbrücken 2007. 22 ICMPD: Germany joins the European migration organisation ICMPD, Homepageeintrag, 20.5.2020, unter: www.icmpd.org/news-centre/news-detail/ press-release-germany-joins-the-european-migration-organisation-icmpd/. 23 ICMPD: Our work, Homepageeintrag, unter: www.icmpd.org/our-work/. 24 EUTF: ICMPD, Homepageeintrag, unter: https://ec.europa.eu/trustfundforafrica/partner/icmpd_en. 25 Brady, Hugo: Migration in the age of biosecurity, Online-Artikel, ICMPD, 3.4.2020, unter: www.icmpd.org/news-centre/news-detail/expert-voice-covid19-migration-in-the-age-of-biosecurity/. 9 eingesperrter» sein werden. Für Flüchtlinge seien die Aussichten düster. Deren Unterbringung in der Nähe von Herkunftsländern werde an Bedeutung gewinnen. Die jüngsten Maßnahmen Maltas und Italiens und die sich seit Ausbruch der Corona-Krise verändernde Rhetorik europäischer Offizieller zeigt dabei deutlich: Bradys Prognosen entsprechen keiner fernen Dystopie, sondern umreißen bevorstehende Verschärfungen der EU-Migrations- und Grenzauslagerungspolitik. Erste Anzeichen einer solchen, durch Covid-19 zusätzlich angeheizten Dynamik sind bereits klar erkennbar. Ob diese bereits einsetzende Zuspitzung der EU-Grenzkontrollpolitik dem Begriff «neue Ära» gerecht werden wird, ist offen. Doch Covid-19 fungiert zweifellos als Katalysator für diese Politik und ebnet den Weg für einen drastischen Ausbau von Grenzsicherheitssystemen, deren Infrastruktur und Ausrüstung künftig noch mehr auf Hightech, Überwachungstechnologie und dem Sammeln von Daten basieren wird. Brady redet einer ebensolchen Weiterentwicklung der Grenzkontrolltechnik das Wort, wenn er schreibt: «Um zu einer freieren Bewegung zurückzukehren, sind schärfere globale Standards in Sachen Gesundheitsuntersuchungen und Krankheitsüberwachung in Häfen, Flughäfen, der Reiseindustrie und beim Zoll vonnöten.» Ein zweiter in der ICMPD-Reihe erschienener Text wird in dieser Frage noch deutlicher und fordert eine signifikante Technologisierung von Grenzen, Grenzkontrollen und Ausweisdokumenten sowie eine verstärkte Digitalisierung und Speicherung personenbezogener Gesundheitsdaten.26 Corona habe die Notwendigkeit einer besseren Einbindung von Gesundheitsinspektionen in das Grenzmanagement deutlich vor Augen geführt, heißt es in dem Beitrag, der auf eine engere Kooperation zwischen Grenzschutz-, Zoll- und Gesundheitsbehörden pocht. Die drei Autor*innen plädieren für eine Modernisierung der Kommunikations- und Arbeitsmethoden im Grenzmanagement, das heißt für den Ausbau von digitalen Kommunikationsplattformen und Echtzeit-Informationsaustausch. Nahegelegt werden zudem die verstärkte Nutzung von künstlicher Intelligenz, kontaktloser Ausrüstung für Identitätskontrollen (kontaktlose Fingerabdrucklesegeräte, Gesichtserkennung etc.) und von E-Gates, die für Temperaturmessungen von Reisenden ausgerüstet sind. Auch Reisedokumente könnten künftig anders aussehen als heute, orakelt das ICMPD. Während auf Pässen neben den oft bereits darauf gespeicherten biometrischen Daten auch Gesundheitsinformationen gesichert werden könnten, bringen die Autor*innen auf Smartphones basierende digitale Pässe ins Spiel, die medizinische Unterlagen wie Impfdaten enthalten könnten. Eine in dieser Manier vorangetriebene und als «Modernisierung» bezeichnete Hochrüstung von Grenzkontrollen, eine für Einreisen verpflichtend gemachte «freiwillige» Preisgabe von Gesundheitsdaten und eine Ausweitung des amtlichen Informationsaustausches würde weitere Mobilitätsbeschränkungen für sich «irregulär» bewegende Menschen mit sich bringen. Die Kluft zwischen «regulär» und «irregulär» Reisenden würde sich weiter vergrößern. Unrealistisch ist eine solche Transformation von Reisedokumenten keinesfalls, knüpfen die vom ICMPD vorgeschlagenen Neuerungen doch an die von der EU – und auch von nicht europäischen Staaten in Nord- und Westafrika – seit Jahren vorangetriebene Digitalisierung von Ausweispapieren an, auf denen zunehmend biometrische Daten gespeichert werden sollen. Die EU reagierte bereits und passte die Einreisebestimmungen für Drittstaatsangehörige an die neuen gesundheitspolitischen Gegebenheiten an. Durch das noch im Aufbau befindliche ETIAS-Visafreigabesystem (European Travel Information and Authorization System), dessen offizieller Start allerdings nicht vor Ende 2022 geplant ist, sollen Drittstaatsangehörige künftig gezwungen werden, sich vor ihrer Ankunft im Schengen-Raum ihre Einreise autorisieren zu lassen.27 Begründet durch den Ausbruch der Corona-Pandemie, modifizierte die EU das System und fordert von Drittstaatsangehörigen nun zwingend, dass diese umfangreiche Informationen über ihren Gesundheitszustand preisgeben. Die neuen Regularien erlauben es explizit, Menschen oder Gruppen die Einreise in den Schengen-Raum zu verweigern, wenn sie aus von Epidemien oder Pandemien betroffenen Gebieten einreisen. PANDEMIEN UND GRENZSCHLIESSUNGEN Die mit dem Ziel, die Corona-Pandemie so schnell wie möglich einzudämmen, beinahe weltweit auferlegten Reisebeschränkungen und Grenzschließungen wurden wiederholt als beispiellos bezeichnet. Grenzschließungen werden jedoch schon seit Jahrhunderten als staatliches Mittel der Seuchenbekämpfung eingesetzt. «Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass immer wieder versucht wurde, Pandemien durch das Beschränken der Mobilität von Menschen einzugrenzen», erklärt Gerda Heck, Professorin am Center for Migration and Refugee Stu- 26 Eržen, Borut/Weber, Monika/Sacchetti, Sandra: How Covid-19 is changing border controls, Online-Artikel, ICMPD, 16.4.2020, unter: www.icmpd.org/ news-centre/news-detail/expert-voice-how-covid-19-is-changing-border-control/. 27 ETIAS: ETIAS and its role in protecting public health, Homepageeintrag, unter: www.etiasvisa.com/etias-news/etias-role-protecting-public-health. 10 dies an der American University in Cairo (AUC), gegenüber der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dies seien zunächst einmal virologisch bedingte Schritte, «die aber oftmals rassistisch konnotiert waren und sind», so Heck. Die Frage, wer eine Krankheit in ein Land eingeschleppt habe, werde in öffentlichen Debatten nicht nur aus virologischer Sicht diskutiert, sondern mit gegen bestimmte Gruppen gerichteten Stereotypen vermischt, meint sie. Charles Kenny verweist im Online-Magazin Politico auf die seit Beginn der Corona-Pandemie massiv anschwellende Diskriminierung gegenüber Asiat*innen, die zeige, dass Krankheiten nicht nur mit internationalem Reisen und Migration assoziiert werden, sondern unmittelbar auch mit Ausländer*innen. 28 Konkrete Beispiele dafür finden sich in der neueren Geschichte zuhauf. Heck und Kenny beziehen sich beide exemplarisch auf Entwicklungen in den USA: Während Kenny das Einwanderungsgesetz von 1891 nennt, das mehrere Jahre nach seiner Verabschiedung zunehmend und selektiv gegen als «unerwünscht geltende ethnische Gruppen» eingesetzt worden sei – zwischen 1898 und 1915 sei der Anteil an Einwander*innen, denen aus gesundheit­ lichen Gründen die Einreise verwehrt worden sei, von zwei auf mehr als 66 Prozent gestiegen –, führt Heck die Reaktio­nen von US-Behörden auf die Verbreitung des HIV-Virus in den 1980er Jahren an. «Nachdem die US-Regierung 1987 Einreiserestriktionen gegen HIV-Infizierte eingeführt hatte, entstand in den USA das Stereotyp des aus Haiti stammenden HIV-positiven Migranten, das auch deshalb gesellschaftlich geprägt wurde, da in Haiti damals relativ viele Menschen mit dem Virus infiziert waren», so Heck. Es habe aber in der US-amerikanischen Gesellschaft schon zuvor große Vorbehalte und Vorurteile gegen Haitianer*innen gegeben, die durch die zunehmende Verbreitung von HIV noch zusätzlich verstärkt worden seien, erklärt sie. Anfang der 1990er Jahre versuchte die US-Regierung, die Einreise haitianischer Flüchtlinge mit allen Mitteln zu verhindern. Nach dem Putsch gegen Jean-Bertrand Aristide 1991 flüchteten Zehntausende Menschen aus Haiti auf Booten in Richtung USA, deren Küstenwache innerhalb eines Jahres rund 37.000 Geflüchtete abfing. Diese wurden jedoch nicht in die USA, sondern in die US-Militärbasis Guantanamo Bay in Kuba gebracht und dort unter katastrophalen Bedingungen interniert. Asylschnellverfahren wurden auf exterritorialem Boden außerhalb der USA durchgeführt. Während rund 10.000 Menschen einen Schutzstatus erhielten, wurden Zehntausende nach Ablehnung ihrer Asylanträge nach Haiti abgeschoben.29 Jene, deren Asylanträge in Guantanamo bewilligt worden waren, durften jedoch nicht unmittelbar einreisen, sondern wurden von den US-Behörden zunächst auf HIV zwangsgetestet. Rund 300 HIV-infizierte Menschen aus Haiti wurden trotz positiver Asylbescheide bis zu 18 Monate lang in Guantanamo festgehalten. Erst die massiven Proteste der Zivilgesellschaft in den USA und die Gerichte zwangen die US-Behörden dazu, die Geflüchteten doch einreisen zu lassen.30 Die Internierungspraxis von Haitianer*innen in Guantanamo basierte dabei auf einer Mischung aus Rassismus und dem Vorurteil, Haitianer*innen hätten das Virus in die USA eingeschleppt, während die Einreiseverweigerungen gegen anerkannte und positiv auf HIV getestete Flüchtlinge mit dem Einreiseverbot gegen HIV-Infizierte legitimiert wurde. Das HIV-Virus diente aber nicht nur in den USA dazu, gesundheitspolitisch legitimierte Einreiseverbote gegen Ausländer*innen oder Migrant*innen zu verhängen. Die Vereinten Nationen berichteten unter anderem von Abschiebungen und verweigerten Einreiseanträgen oder Arbeitsvisa gegen positiv auf HIV getestete Personen in Russland, Thailand, Korea, Saudi-Arabien oder Oman.31 SEUCHEN ALS PROJEKTIONSFLÄCHE Schon im April 2020 warnte Daniel Trilling im Guardian eindringlich davor, dass die nach dem Nachlassen der gesundheitlichen Bedrohung durch Covid-19 bevorstehenden wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche mit einer Intensivierung «nationalistischer Forderungen in reichen Staaten, sich nach innen zu wenden», einhergehen könnten. Dies könne damit beginnen, Außenstehende auszuschließen, werde sich vermutlich aber auch gegen «unwürdige» Bürger*innen richten.32 Covid-19 habe zwar deutlich gezeigt, dass Seuchen sich nicht unbedingt von Afrika aus nach Europa, sondern auch umgekehrt ausbreiten, sagt Paolo Cuttitta von der Sorbonne. «Der Diskurs seuchenbringender Afrikaner*innen wurde trotzdem im Kontext von Corona benutzt – wie die zu Beginn ausschließlich für aus Seenot gerettete Migrant*innen verpflichtende Quarantäne in Italien», betont Cuttitta. 28 Kenny: Pandemics close borders. 29 Annas, George: Detention of HIV-positive Haitians at Guantanamo – human rights and medical care, in: The New England Journal of Medicine, 19.8.1993, unter: www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJM199308193290826. 30 Paik, Naomi: US turned away thousands of Haitian aslym-seekers and detained hundreds more in the 90s, in: The Conversation, 28.6.2018, unter: https://theconversation.com/us-turned-away-thousands-of-haitian-asylum-seekers-and-detained-hundreds-more-in-the-90s-98611. 31 UNAIDS: The impact of HIV-related restrictions on entry, stay and residence: personal narratives, Genf 2009, unter: http://data.unaids.org/pub/ report/2009/jc1728_narratives_en.pdf. 32 Trilling, Daniel: Coronavirus offers an excuse to close borders. That would be a mistake, in: The Guardian, 26.4.2020, unter: www.theguardian.com/ commentisfree/2020/apr/26/coronavirus-close-borders-pandemic. 11 Nachdem sich die Corona-Pandemie auf dem afrikanischen Kontinent zunächst nur sehr langsam verbreitet hatte, stiegen die Infektionszahlen in zahlreichen afrikanischen Ländern im Mai und Juni massiv an33 – ein Aspekt, der von Teilen der europäischen Öffentlichkeit und insbesondere der extremen Rechten noch ausgeschlachtet und instrumentalisiert werden könnte, um eine noch rigidere Einwanderungspolitik einzufordern. Einer Rückkehr von auf gesundheits- und biopolitischen Zuschreibungen basierenden Stereotypen gegen afrikanische Migrant*innen wäre damit abermals der Weg geebnet. Historische Analogien – auch ethnische oder religiöse Minderheiten betreffend – sind unübersehbar. Dass es einen «Zusammenhang zwischen Seuchen und Ausgrenzung» und Seuchenvorstellungen und Raumkonzepten gibt, «mit denen Grenzen zwischen ‹uns› und den ‹Anderen› gezogen werden», konstatierte Malte Thießen, Juniorprofessor für Europäische Zeitgeschichte an der Universität Oldenburg, schon 2015.34 Thießen bezog sich unter anderem auf die Verbreitung der Pest im 14. Jahrhundert: Damals seien Jüdinnen und Juden als «Brunnenvergifter» oder «Pestbringer» stigmatisiert worden. Die Judenfeindlichkeit sei keineswegs neu gewesen, habe jedoch «soziale Spannungen und tradierte Stereotype» verschärft. «Die Seuche – das waren immer die ‹Anderen›», schrieb der Historiker. Auch deshalb seien Krankheitsausbrüche «perfekte Projektionsflächen». Wie irrational und irreführend solche Zuschreibungen oft sind, zeigte Thießen an einem anderen Beispiel. In den 1890er Jahren habe eine deutsche Zeitung einen jüdischen Einwanderer für das Einschleppen der Pocken nach Berlin verantwortlich gemacht, obwohl die Krankheit zu jener Zeit keine gesundheitliche Bedrohung mehr darstellte – wie das Blatt selbst betonte. «Erst die Projektionsfläche des ‹jüdischen, schmutzigen Migranten› machte die Pocken zum Skandal», so Thießen. Seuchenmetaphern gehören auch in der jüngeren Geschichte zum festen Bestandteil von Diskursen, die auf Abgrenzung gegenüber den vermeintlich «Anderen» basieren. Im Kontext der Verbreitung von HIV habe sogar das Nachrichtenmagazin Der Spiegel 1983 von einer «Homosexuellen-Seuche» gesprochen, während ähnliche Seuchenmetaphern auch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 im Kontext der Terrorismusbekämpfung eine «ungebrochene wie unheilvolle Attraktivität» gehabt hätten – auch wenn dies «jeder epidemiologischen Grundlage» entbehrt habe, so Thießen mit Verweis auf den Schweizer Historiker Philipp Sarasin.35 AUSBLICK – MIGRATION UND GRENZREGIME NACH COVID-19 Covid-19 ist nicht nur in Europa und im globalen Norden der ideale Nährboden für eine zunehmend auf biopolitischen Zuschreibungen basierende Abgrenzungs- und Ausgrenzungspolitik gegenüber Geflüchteten und Migrant*innen. US-Präsident Donald Trumps Gebrauch der Bezeichnung «chinesisches Virus» lässt die Alarmglocken ebenso läuten wie die jüngsten Verbalattacken der italienischen Rechten auf die Regierung in Rom, der sie vorwarf, die Schleuserei im Mittelmeer anzuschieben.36 Die Grenzauslagerung und Kriminalisierung von «irregulärer» Migration hat eine lange Tradition in Europa und wird bereits seit Jahrzehnten sukzessive vorangetrieben, doch die Corona-Krise befeuert diese restriktive Entwicklung im EU-Grenzregime und wird der auch an wirtschaftlichen Interessen orientierten Politik von Reglementierung, Kontrolle und Filterung von Einwanderung und Migration zusätzlich Vorschub leisten. Paolo Cuttitta von der Université Sorbonne betont aber auch, dass die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie auf die migrantische Bevölkerung in Europa nicht nur negativ seien. Dabei verweist er auf Entlassungen von in Abschiebehaft sitzenden Menschen in Frankreich oder auf die von Italien und Portugal angekündigte Regularisierung von «irregulär» im Land lebenden Migrant*innen. Solche Regularisierungen seien zwar absolut begrüßenswert, sehr wichtige und gute Schritte, würden jedoch offenbar auch aus pragmatischen Motiven heraus vorangetrieben, fügt die Migrationsforscherin Gerda Heck von der AUC hinzu: «Europas Landwirtschaft ist auf schlecht bezahlte Beschäftigte angewiesen. Angesichts der Corona-Krise könnte es in den nächsten Jahren zu Nachschubproblemen für Europas Niedriglohnsektoren kommen, da immer weniger Menschen neu in die EU einreisen. Wir haben es hier also mit Abwägungsprozessen zwischen den Profitinteressen der Wirtschaft und gesundheitspolitischen Diskursen zu tun.» In der Tat dürfte die zunehmende Abriegelung der europäischen Außengrenzen nach Covid-19 mit Versuchen einhergehen, die Arbeitsmigration für bestimmte Wirtschaftssektoren in Europa neu zu organisieren und zu reglementieren. Flüchtlinge seien in Europa heute unerlässlich, um die Gesellschaften über Wasser zu halten, 33 Hansrod, Zeenat: Covid-19 has not taken a break as figures show large increase in Africa infections, rfi, 9.6.2020, unter: www.rfi.fr/en/africa/20200609coronavirus. 34 Thießen, Malte: Infizierte Gesellschaften: Sozial- und Kulturgeschichte von Seuchen, in: Aus Politik und Zeitgeschehen 20–21/2015, S. 11–18, unter: www.bpb.de/apuz/206108/infizierte-gesellschaften-sozial-und-kulturgeschichte-von-seuchen. 35 Sarasin, Philipp: Anthrax. Bioterror als Phantasma, Frankfurt a. M. 2004. 36 Braun, Michael: Mit Tricolore gegen Conte, in: die tageszeitung, 4.7.2020, unter: https://taz.de/Rechte-Demonstration-in-Rom/!5698178&s=italien/. 12 heißt es auch beim ICMPD, das in einem im April erschienen Artikel vor allem die Vorteile einer Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten im Gesundheitssektor anpreist.37 Auf lange Sicht wird eine solche partielle Regularisierungspolitik jedoch eher für Wirtschaftssektoren relevant sein, in denen geringqualifizierte Arbeitskräfte gebraucht werden – allen voran in der Landwirtschaft und im Baugewerbe. Konzepte der zirkulären Migration könnten auch vor diesem Hintergrund künftig an Bedeutung gewinnen, dürften aber vor allem aus einer kapitalistischen Verwertungs- und Bedarfslogik heraus vorgetragen werden. Eine derartige Transformation der Migrations- und Grenzkontrollpolitik droht nach der Covid-19-Pandemie nicht nur einher zu gehen mit einer massiven Verschärfung lokaler, regionaler und globaler Ungleichheiten, sondern auch mit politischen und wirtschaftlichen Instabilitäten. Widerstände dagegen sind heute wichtiger denn je. Die Pandemie kann aber dennoch auch linken Bewegungen in Europa und im globalen Süden Impulse verleihen und sowohl diskursiv als auch konkret genutzt werden, um Widerstände gegen eine weitere Verstärkung von Grenzen und Grenzregimen effektiver zu gestalten und Gegenöffentlichkeit zu schaffen. In zahlreichen auf Importe aus den Industrieländern angewiesenen Staaten finden seit Monaten teils intensive Debatten darüber statt, die lokale Produktion bestimmter Güter auszuweiten, um strukturelle Abhängigkeiten vom globalen Norden zu reduzieren – blieben aus diesem doch bitter benötigte Lieferungen medizinischer Materialien weitgehend aus. Die «irreguläre» Migration über das Mittelmeer findet derweil weiterhin tagtäglich statt. Die Corona-Krise bietet Gelegenheit, Ursprünge von Migration und die in offiziellen und medialen Diskursen allgegenwärtige Unterteilung in legitime «Flüchtlinge» und nicht legitime «Wirtschaftsmigrant*innen» zu thematisieren und Diskussionen über derlei irreführende und an den Wirklichkeiten im globalen Süden vorbeigehende Definitionen anzustoßen. «Dieser Diskurs, der ja auch so mächtig ist, weil er von Organisationen wie dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR oder der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bedient wird, die im Namen von Geflüchteten sprechen, basiert auf einer Vorstellung von Flucht, die sehr limitiert gedacht wird und völlig ausblendet, dass damit das Recht auf Flucht ausgehöhlt wird», betont Maurice Stierl. Der Diskurs müsse weitergedacht und in einen breiteren Kontext gestellt werden, der wirtschaftliche Fluchtgründe anerkennt und globale Ungleichheiten explizit einschließt. Es müsse auf die Folgen von Handelsverträgen und ausbeuterischen kapitalistischen Strukturen hingewiesen werden, die vor allem Menschen im globalen Süden die Lebensgrundlage entziehen, argumentiert Stierl. 37 Bilger, Veronika/Baumgartner, Paul/Palinkas, Meike: Expert Voice: «Too important to be neglected»: Refugees in Europe are now essential to keep societies afloat, Online-Artikel, ICMPD, 9.4.2020, unter: www.icmpd.org/news-centre/news-detail/expert-voice-too-important-to-be-neglectedrefugees-in-europe-are-now-essential-to-keep-societie/. 13

Cite and reuse

Cite and reuse

Here you will find download options and citation links to the record and current page.

Monograph

METS MARC XML Dublin Core RIS OPAC

Image fragment

Link to the viewer page with highlighted frame Link to a IIIF image fragment

Citation links

Citation link to work Citation link to page

Image manipulation tools

Tools not available
Fullscreen Logo Full screen
  • Rotate to the left
  • Rotate to the right
  • Reset image to default view