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Maldekstra (Rights reserved) Issue2022,15 (Rights reserved)

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Periodical

Title:
Maldekstra : globale Perspektiven von links : das Auslandsjournal / herausgegeben von der common Verlagsgenossenschaft e.G. in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Publisher:
Common Verlagsgenossenschaft e.G.
Rosa-Luxemburg-Stiftung
Publication:
Berlin: Common Verlagsgenossenschaft e.G., 2018 -
Scope:
Online-Ressource
Dates of Publication:
1 (Oktober 2018)-
ZDB-ID:
2987004-5 ZDB
Urban Studies:
Kws 740 Kommunalverwaltung. Kommunalpolitik: Kommunalpolitik
DDC Group:
320 Politik
Copyright:
Rights reserved
Accessibility:
Free Access
Collection:
Public administration,politics

Volume

Publication:
2022
Language:
German
Urban Studies:
Kws 740 Kommunalverwaltung. Kommunalpolitik: Kommunalpolitik
DDC Group:
320 Politik
URN:
urn:nbn:de:kobv:109-1-15469794
Location:
Zentral- und Landesbibliothek Berlin
Copyright:
Rights reserved
Accessibility:
Free Access
Collection:
Public administration,politics

Contents

Table of contents

  • Maldekstra (Rights reserved)
  • Issue2022,16 (Rights reserved)
  • Issue2022,15 (Rights reserved)
  • Issue2022,14 (Rights reserved)
  • Issue2021,13 (Rights reserved)
  • Issue2021,12 (Rights reserved)
  • Issue2021,11 (Rights reserved)
  • Issue2021,10 (Rights reserved)
  • Issue2020,9 (Rights reserved)
  • Issue2020,8 (Rights reserved)
  • Issue2020,7 (Rights reserved)
  • Issue2019,6 (Rights reserved)
  • Issue2019,5 (Rights reserved)
  • Issue2019,4 (Rights reserved)
  • Issue2019,3 (Rights reserved)
  • Issue2.2019 (Rights reserved)
  • Issue2018,1 (Rights reserved)

Full text

maldekstra #15 Globale Perspektiven von links: das Auslandsjournal Juni 2022 Krieg und Frieden Seit dem 24. Februar 2022 scheint der Weg zu einer Friedensordnung versperrt. Er muss trotzdem gefunden werden Durch den militärischen Einmarsch Russlands in die Ukraine änderte sich die Welt, wie wir sie kannten, zum Schlimmeren. Sie war auch vorher nicht gut. Aber die Hoffnung auf eine Friedens­dividende, wie sie am Ende der Blockkonfrontation zu Beginn der 90er Jahre bestanden hatte und in den darauffolgenden Jahren sukzessive schwand, scheint ins Reich der Wünsche verbannt. Der Krieg verschärfte die (Sinn-) Krise der Linken: nicht, was deren Haltung und Kämpfe für eine friedliche Welt ohne Krieg anbelangte, aber in der Frage, wie mit einem ausgebrochenen Krieg umzugehen ist. Es dauerte nur wenige Tage, bis die ersten Kommentatoren der Friedensbewegung eine Mitschuld an diesem Krieg gaben. Die habe naiv immer wieder Abrüstung gefordert, als Wehrhaftigkeit und Aufrüstung das Gebot der Stunde gewesen seien. Die „Dummheit des Krieges“ (UNGeneralsekretär Guterres) wurde umgemünzt in die Dummheit, militärisch nicht wehrhaft genug zu sein. Das verlangt nach Debatte und Vorschlägen. Nach Besonnenheit und Ermutigung, den Kampf gegen Wettrüsten und ein Gleichgewicht des Schreckens zu führen. Für Frieden. 2 maldekstra #15Juni 2022 Inhalt 4 Wir müssen uns ehrlich machen Jan van Aken sagt, es sei gerade jetzt wichtig, darüber zu reden, wo und wann man möglicherweise falsch abgebogen ist 8 Rheinmetall ist Solidarität Bei den Debatten um Krieg und Frieden wird gegenwärtig jedes Argument mit jeder politischen Haltung kombiniert 9 Pazifismus Voller Menschenliebe und voller Enttäuschungen 11 Ökonomisch strafen? Wer Sanktionen verhängt, muss immer Fragen der Ethik stellen und beantworten. 14 Zuerst der Verteidigungskampf, die Friedenstaube später Polen: zum Krieg gegen die Ukraine aus Sicht unmittelbarer Nachbarn 17 Keine „Zeitenwende“ Afrikanische Staaten und ihre Position zu Russland angesichts des Krieges 18 Mali und niemals Frieden Eine Geschichte von Kapitalismus, Kolonialismus und Versagung von Demokratie 19 Zwischen Polarisierung und Multilateralismus Der Indopazifik: europäische Außen- und Sicherheitspolitik in Süd- und Südostasien 20 „Menschen ohne Erinnerungen sind Menschen ohne Geschichte“ Krieg überschreibt eine Geschichte, deshalb muss er vernünftig und allumfassend aufgearbeitet werden 22 Wettrüsten bei Kleinwaffen In Israel kämpft eine feministische Initiative für strengere Kontrollen und Reduzierung Impressum maldekstra ­wird herausgegeben von der common Verlagsgenossenschaft eG, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, in Kooperation mit der Beirat Hana Pfennig, Boris Kanzleiter Redaktion Julia Funcke (Korrektorat), Kathrin Gerlof (V.i.S.d.P.), Anne Schindler, Mitarbeit: Jan van Aken Woher jetzt Optimismus nehmen? Der Schriftsteller, Revolutionär, Widerstandskämpfer André Malraux (1901–1976) gab zu bedenken, dass ein Übermaß an historischem Perfekt den Mut zum Anfangen nehme, da man mit dem Gefühl lebe, nur wiederholen und die Sinnfrage nicht beantworten zu können. Ein Übermaß an Gegenwart lähme ebenfalls, denn es stelle sich die Frage: Was und vor allem wie anfangen? Es mangelt gerade nicht an historischem Perfekt und vor allem nicht an unterschiedlichen Sichtweisen und Interpretationen, gepaart mit Vorwürfen, Schuldzuweisungen und martialischem Aktivismus. Das Übermaß an Gegenwart, nicht weil Krieg etwas Neues ist, sondern weil dieser Krieg eine Zäsur im Sinne einer möglichen neuen Weltordnung sein kann, macht es ebenfalls sehr schwer, eine Zukunft zu denken, die nicht dystopisch daherkommt. Die Irrtümer der jüngeren Vergangenheit wegzureden, ist immer eine Option – oft auch für Linke –, aber stets auch eine fürchterliche Sackgasse. Obwohl es gerade an Putin-Verstehern mangelt (denn verstünde man den imperialistischen Aggressor, wäre dies eben nicht mit Zustimmung gleichzusetzen, eröffnete stattdessen vielleicht Möglichkeiten für einen Ausweg jenseits eskalierender Kriegslogik), sind viele Linke damit befasst, den ja anders gemeinten Vorwurf aus dem Weg zu räumen oder ihm aus dem Weg zu gehen, wenn er sich auf die tatsächlichen Irrtümer der Vergangenheit bezieht. Denn richtig ist: Wer immer und immer und noch kurz vor dem 24. Februar 2022 meinte, die Frage, ob „dieser Russe“ Krieg wolle, klar mit „Nein“ beantworten zu können, muss sich selbst befragen, worauf diese Fehleinschätzung denn gefußt hat. 1962, mitten in der sogenannten Kuba-Krise, stellte der damalige US-Präsident John F. Kennedy seinen Generälen die Aufgabe, sich mit der Frage zu befassen, „warum der Russe so handle, wie er handelt“, um einen möglichen Ausweg jenseits eines atomaren Krieges zu finden. Dem Mann im Nachhinein vorwerfen zu wollen, er hätte versucht, „den Russen“ zu verstehen, läge zwar in der Logik der gegenwärtigen Debatten, wäre aber auch ziemlich absurd. Noch lähmender angesichts des Horrors dieses Krieges, der dem Horror jedes anderen Krieges gleicht, ist die Demontage aller Bewegungen der Vergangenheit, die sich bezogen haben und beziehen auf Frieden ohne stetig steigende Abschreckungspotenziale und jenseits eines Gleichgewichts des Schreckens. Denn gerade jetzt wird genau dieses Schreckensgewicht als einzig denkbare Option für die Zukunft propagiert. Aufrüstung gilt als das Gebot der Stunde. Wer dagegen spricht, wird im zahmsten Fall naiv genannt. So zahm geht es aber in diesen Zeiten nicht zu. Stattdessen wurden tatsächlich schnell Forderungen laut, die Friedensbewegung möge für ihre Mitschuld an diesem Krieg um Verzeihung bitten. Wenn wir uns daran erinnern, wie wenig in den vergangenen Jahren, Jahrzehnten gar, von einer wirklich starken Friedensbewegung gesprochen werden konnte, nähern wir uns nicht nur den Versäumnissen und Irrtümern, sondern auch den fragilen, aber vorhandenen Möglichkeiten für die Gegenwart und eine Zukunft. Angesichts dieser Gegenwart scheint es geradezu fahrlässig, nachgelassen zu haben in den Bemühungen, Bündnisse für Abrüstung und Frieden zu suchen und zu erkämpfen. Starke, grenzüberschreitende Bündnisse, die nicht, noch bevor sie überhaupt wachsen können, durch ideologische Abgrenzung und Rechthaberei ins Aus befördert werden. Denn mitnichten ist Europa erst am 24. Februar vom Krieg heimgesucht worden. Zu Beginn der 90er Jahre begann der Jugoslawienkrieg, im Osten der Ukraine tobt seit acht Jahren einer. Und über den europäischen Tellerrand hinausgeschaut, fallen uns sicher Länder wie Tschetschenien, Irak, Afghanistan, Syrien ein. Keine starke Antikriegsbewegung weit und breit. Dabei könnte man bleiben und den Dingen ihren Lauf lassen. Die da heißen: weitere Militarisierung der Außenpolitik, Hochrüstung, Kampf gegen das drohende ökologische Desaster als Nebenschauplatz, wachsender Nationalismus, der sich sehr wohl auch als prägend für Militärbündnisse der Stärke und westeuropäisch-atlantische Selbstgerechtigkeit erweisen kann. Dann aber hätten wir es möglicherweise mit einem lähmenden Übermaß an Gegenwart zu tun. Und Abschied genommen von der Überzeugung, dass Geschichte machbar ist. Kathrin Gerlof Illustrationen Lena Westphal Gestaltung Michael Pickardt Kontakt Tel. 030.2978.4678 kontakt@common.berlin Druck BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH, Am Wasserwerk 11, 10365 Berlin Druckauflage 52.500 „maldekstra“ steht für „links“ in der Weltsprache Esperanto. „maldekstra“ kann kostenfrei bezogen werden über bestellung.rosalux.de. Anfragen und Leser*innenbriefe bitte an maldekstra@rosalux.org „maldekstra“ wird finanziert aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Analysieren, was passiert Seit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine befindet sich Europa im schwersten militärischen Konflikt seit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien. „Europa steht vor den Trümmern des zerrütteten Verhältnisses zu Russland“, heißt es in einem stetig fortgeschriebenen Dossier der RosaLuxemburg-Stiftung zum Krieg, der am 24. Februar begonnen, jedoch einen weitaus längeren Vorlauf hat. Hintergründe und Folgen, Akteur*innen und Leidtragende, die Frage nach den Möglichkeiten einer friedlichen Konfliktlösung – die Diskussionen darüber stehen nicht am Anfang, sind aber auch nicht an einem Punkt, wo sich Lösungen bereits abbilden, Zukunft schon beschreiben lässt. Alles ist widersprüchlich, alles polarisiert, und vor allem: Dieser Krieg hat Auswirkungen auf Lebenssituationen und Existenzen überall auf der Welt, denken wir nur an die drohende Hungerkrise. Das Dossier ist zugleich eine Suche und eine Ermutigung. Regelmäßig reinzuschauen lohnt sich. https://www.rosalux.de/dossiers/krise-in-der-ukraine Juni 2022 maldekstra #15 Nelson Mandela 27 Jahre lang war er politischer Gefangener des südafrikanischen Apartheid-Regimes. Fast drei Jahrzehnte. Er muss den Machthabern als einer der gefährlichsten Männer gegolten haben. Und das war er auch. Eine Gefahr für die menschenfeindliche Apartheidpolitik, eine Hoffnung für alle, die in Südafrika und anderswo auf der Welt gegen Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit und für Freiheit kämpfen. 1918 geboren, als ein Weltkrieg zu Ende ging, bekam er von seinem Vater den Namen Rolihlahla, was einen Unruhestifter meint („am Ast eines Baumes ziehen“), und so ist es gekommen. 1948 übernahm er seine erste Funktion im ANC (African National Congress), vier Jahre später entwickelte er den „Mandela-Plan“ – ein Widerstandskonzept gegen die Apartheid, dafür wurde er vom Regime gebannt. Ewig gejagt, immer gekämpft, inhaftiert, freigelassen, gebannt, inhaftiert, im Untergrund gelebt, wieder gefangen genommen. 1960, nach dem Massaker von Sharpeville, bei dem die Apartheid unbewaffnete Demonstranten tötete, proklamierte der ANC den von nun an bewaffneten Kampf gegen die Unterdrücker. „Wenn die Reaktion der Regierung darin besteht, mit nackter Gewalt unseren gewaltlosen Kampf zu zermalmen, so werden wir unsere Taktik zu überdenken haben.“ 1964 wurde Mandela zu lebenslanger Haft verurteilt. Das „lebenslang“ endete 1990, das Verbot des ANC wurde aufgehoben. Mandela proklamierte vor 120.000 Menschen seine Politik der Versöhnung für ein „nichtrassisches, geeintes und demokratisches Südafrika“. 1993 erhielt er den Friedensnobelpreis, ein Jahr später gewann der ANC die ersten demokratischen Wahlen mit absoluter Mehrheit. Nelson Mandela wurde der erste schwarze Präsident des Landes. 1999 hielt er seine Abschiedsrede und schied aus der Politik aus. Er starb 14 Jahre später.  kg 3 4 maldekstra #15Juni 2022 Wir müssen uns ehrlich machen Jan van Aken sagt, es sei gerade jetzt wichtig, darüber zu reden, wo und wann man möglicherweise falsch abgebogen ist Fo to : pr iva t Jan van Aken, promovierter Biologe, arbeitete als Gentechnikexperte für Greenpeace und von 2004 bis 2006 als Biowaffeninspekteur für die Vereinten Nationen. Zwischen 2009 und 2017 war er Abgeordneter der Linksfraktion im Bundestag. Heute arbeitet er zu Sicherheits- und Friedenspolitik für die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Diese „maldekstra“ wird im Juni erscheinen. Dann wird der Krieg, den Russland am 24. Februar begann und der eine sehr lange Vorgeschichte hat, bereits vier Monate dauern. Das Wort „Zeitenwende“ hat sich in diesen Monaten sehr abgenutzt. Aber nehmen wir es zu Beginn dieses Gesprächs noch einmal auf. Was rechtfertigt, es so oft zu benutzen, und können wir etwas darüber sagen, wann diese Zeitenwende begonnen hat? Ich finde den Begriff in dieser Situation nicht richtig. Das blendet aus, wie viele Angriffskriege in den vergangenen 30, 40 Jahren stattgefunden haben. Auch in Europa. Dies ist ein schlimmer Angriffskrieg. Der ist sehr dicht an uns dran, an Europa, auch an Deutschland. Deshalb braucht er besondere Aufmerksamkeit. Aber politisch betrachtet ist es keine Zeitenwende. Ich muss sagen, für mich persönlich, das merke ich auch in meinem Freundeskreis, ist die Wende vor allem, dass man plötzlich wieder real Angst hat vor einem Krieg. Das hatte ich 40 Jahre nicht und das ist natürlich ein großer Unterschied. Bleiben wir trotzdem noch kurz bei dem Begriff. Zu Beginn der 90er Jahre ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt, mit Beteiligung westlicher Staaten. Lassen sich also in der jüngeren Vergangenheit trotzdem Punkte, Zäsuren feststellen? Natürlich, aber Zeitenwende, da reden wir von historischen Zeiträumen. Mit Sicherheit war der Zusammenbruch des Ostblocks 1989/90 eine Zeitenwende. Dieses Gezerre um die Ukraine. Die EU wollte das Land gegen Russland an sich binden, Russland wollte seinen Einfluss auf die Ukraine gegen die EU und die NATO ausdehnen. Die Ukraine wurde gezwungen, sich zu entscheiden, und das hat zu dem Desaster geführt. Plötzlich ist ein Land, das zwischen den Blöcken stand und unter optimalen Bedingungen mit beiden Seiten Beziehungen hätte pflegen können, zerrissen worden, weil beide Seiten gezerrt haben. Und ja, viele Linke haben sich auch nur in diesem Widerspruch zwischen Russland und NATO verhalten, sich entweder auf die eine oder die andere Seite geschlagen. Stattdessen hätte man sich an die Seite der Ukraine stellen müssen. Dann nehmen wir doch mal den Begriff „Nachkriegszeit“, der die Zeit ab 1945 beschreibt. Auch das scheint doch ein ziemlicher Euphemismus zu sein. Nicht nur, weil es auch auf europäischem Boden Kriege gegeben hat, sondern weil es in all den Jahren nach 1945 nie eine kriegsfreie Zeit gab. Das finde ich einen interessanten Gedanken. Wir sagen immer „Nachkriegszeit“, und natürlich gab es die ganze Zeit Kriege. Koreakrieg, Vietnamkrieg. Einerseits stimmt es also, das mal zu hinterfragen. Andererseits steht dieser Zweite Weltkrieg singulär in seiner Dimension. Ich würde den Begriff also weiterhin benutzen. Es fällt Linken, scheint es, besonders schwer, mit diesen Uneindeutigkeiten, mit dieser Ambiguität, klarzukommen. Einfacher ist es natürlich immer, zu sagen: Da sind die Guten, hier die Bösen, und so positionieren wir uns in diesem Problemfeld. Gerade die Gegenwart dieses Krieges zeigt aber, wie unmöglich das ist. Ich glaube, da gibt es solche und solche Linke. Ich finde, für Linke sollte es einen Bezugspunkt geben, und das sind die Menschen. Gegenwärtig sind es die Menschen in der Ukraine. Da sind auch schlechte Menschen dabei, wie überall. Aber es sind die, die in Bedrängnis sind, und deshalb stehe ich als Linker an der Seite der von diesem Angriffskrieg betroffenen Menschen in der Ukraine. Dann erfordert das auch überhaupt nicht, in Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen und zu sagen, die einen sind nur gut, die anderen nur böse. Dann kann ich mit solch einer Unschärfe leben. Ich kann sagen und muss sagen, dass Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führt und Kriegsverbrechen begeht. Ich kann genauso sagen, dass es ein großer Fehler ist, wenn die Amerikaner das jetzt als Stellvertreterkrieg behandeln. Denen geht es weniger um einen gerechten Frieden für die Ukraine, sondern in erster Linie um den Sieg gegen Russland. Ein Stellvertreterkrieg, in dem die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten als Fußsoldaten der USA kämpfen. Das kann ich genauso kritisieren. Der ukrainische Historiker Taras Bilous schrieb in einem Beitrag für die Zeitschrift „Luxemburg“, die Ukraine sei nach dem Kollaps der UdSSR zerrieben worden zwischen den Interessen zweier imperialistischer Machtblöcke. Wobei Deutschland zu einem der beiden gehört – dem Westen. Die Autonomie und das Recht auf Selbstbestimmung der Ukraine sind von beiden Seiten auf unterschiedliche Art und Weise infrage gestellt worden. Abgewertet als Pufferzone zwischen den Blöcken. Dem ist auch von linker Seite nichts Konstruktives entgegengesetzt worden. Oder ist das ein falscher Blick auf die Dinge? Ich glaube, dass die Ukraine gar nicht so sehr als Pufferzone gesehen wurde, sondern als Einflusszone. Das, was 2013 zum Euromaidan geführt hat. Fällt es genauso leicht, zu sagen: Da sterben auch russische Soldatinnen und Soldaten, denen wird dieser Krieg befohlen, die werden in Särgen oder gar nicht nach Hause gebracht, wenn sie sterben? Ist es möglich, sich mit der gleichen oder ähnlicher Empathie auch für diese Menschen einzusetzen? Genauso einfach, würde ich nicht sagen. Es ist Moskaus Krieg, es ist der Kreml-Krieg, es ist nicht der russische Krieg. Viele Menschen in Russland unterstützen diesen Krieg. Das hat viel mit Propaganda zu tun, mit Nichtwissen, aber natürlich auch mit einem bestimmten Verhältnis russischer Menschen gegenüber anderen Völkern der früheren Sowjetunion. Auch diese Probleme haben wir als Linke uns in den vergangenen 30 Jahren nicht oder nicht ausreichend angeschaut und diskutiert. Ein Fehler. Natürlich gilt unsere Solidarität den Menschen in Russland, die gegen den Krieg protestieren, die darunter leiden. Und da würde ich nicht alle Soldatinnen und Soldaten über einen Kamm scheren. Es gibt jene, die mit Hurra freiwillig in diesen Krieg ziehen, und andere, die würden lieber etwas anderes machen. An dieser Stelle fehlen uns gegenwärtig tatsächlich Informationen, denn es erscheint so, als sei die ganze Nation Russlands ein monolithischer, kriegswilliger Block. Jeder Krieg, jede Auseinandersetzung, die mit Mitteln geführt wird, die auf die Vernichtung von Menschen setzen, stellt uns vor die gleichen Fragen: Wäre es zu verhindern gewesen? Wann wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, das Desaster zu vermeiden? Was können wir jetzt tun? Haben wir uns etwas vorgemacht, wenn wir geglaubt haben, dass nach dem letzten Weltkrieg eine friedlichere Nachkriegsordnung entstanden ist? Ist es müßig, sich gerade jetzt mit diesen Fragen zu beschäftigen? Wir müssen da jetzt drüber nachdenken und reden. Um es in Zukunft besser zu machen. Denn natürlich müssen wir jetzt alles unterlassen, was eine langfristige Friedensordnung in Europa verhindert. Deshalb bin ich so vehement gegen das 100Milliarden-Aufrüstungspaket. Das setzt eine Rüstungsspirale in Gang, die in den kommenden Jahren weitergehen wird. Das verhindert eine Friedensordnung in den nächsten Jahrzehnten. Deshalb müssen wir heute zurückschauen und fragen, wo wir möglicherweise falsch abgebogen sind. Was zu sagen mir in der Rückschau am wichtigsten ist: Ich höre gegenwärtig immer wieder, das Konzept „Wandel durch Handel“ sei gescheitert. Man hätte ja mit Russland immer engere Wirtschaftsbeziehungen gehabt und trotzdem hätten sie dann einen Krieg angefangen. Ich finde, das ist überhaupt nicht gescheitert, sondern der Westen hat es gar nicht erst versucht. Es gab Anfang der 2000er Jahre Angebote aus Moskau für eine Handelsregion von Vancouver bis Wladiwostok, das war der Versuch der Westwendung Russlands und da hat der Westen einfach Nein gesagt. Eine Parallele zu Erdoğans Bemühungen? Ja. Auch der hatte die Westwendung versucht. Er wollte den Eintritt in die EU. Im Zuge der Beitrittsverhandlungen haben sich viele Dinge in der Türkei zum Besseren gewendet. Bis die EU Nein gesagt hat. Das war der Moment, da sich Erdoğan nach Osten gewandt und ein immer autoritäreres Regime installiert hat. Heute führt auch die Türkei einen völkerrechtswidrigen Krieg in Syrien. In beiden Fällen, in Russland und der Türkei, hätte das Prinzip „Wandel durch Handel“ funktionieren können, wenn man es im Westen ernsthaft versucht hätte. maldekstra #15 5 Ein kurzer Ausflug in die Geschichte. Als die Kuba-­Krise auf ihrem Höhepunkt war, soll J. F. Kennedy seinen kriegswilligen Generälen gesagt haben, man müsse doch zuerst einmal wissen, warum der Russe tut, was er tut. Im Moment der höchsten Gefahr einen Schritt zurücktreten, um noch einmal wesentliche Fragen zu stellen, das wäre doch vielleicht auch jetzt, in dieser so schrecklich aufgeheizten Situation, wichtig. Ich kenne diese Lesart nicht, aber würde sie im Moment weiterhelfen? Natürlich wissen wir, wie die NATO in den vergangenen 30 Jahren mit Russland umgegangen ist. Für den Westen spielte Russland in der dritten Liga, alle Sicherheitsinteressen und Angebote für eine engere Kooperation wurden ignoriert. Auch Kennedy wusste damals natürlich sehr genau, warum die UdSSR die Raketen in Kuba stationiert hatte – die NATO hatte ja auch Atomraketen dicht an der sowjetischen Grenze stationiert. Das ist also eine schöne Geschichte, aber vielleicht eben auch nur eine Geschichte. Aber manchmal braucht es schöne Geschichten, um die Hoffnung nicht zu verlieren. Ja, auf jeden Fall. Es hat nur wenige Tage gedauert nach Ausbruch des Krieges, da wurden Vorwürfe laut, die Friedensbewegung trüge eine Mitschuld am Krieg und habe sich dafür zu entschuldigen. Die Linke hat sich immer als Teil der Friedensbewegung verstanden. Und die steht mit dem Rücken zur Wand. Wie damit umgehen? Ehrlich. Man muss sich ehrlich machen. Ja, es gab in der Linkspartei eine kleine, aber laute Minderheit, die waren in dem einfachen Modus: USA böse, Russland gut. Die wollten lange nicht sehen, dass in Moskau nicht mehr der Generalsekretär der KPdSU sitzt, sondern dass Putin eine neoliberale, konservative, autokratische Regierung anführt. Trotzdem wurde alles in Schutz genommen, die russischen Bomben waren die guten, Deshalb stehe die amerikanischen die schlechten. Da muss man ehrlich sagen: Das war falsch. ich als Linker an Das haben viele von uns immer der Seite der von kritisiert, es war auch nie die Mehrdiesem Angriffskrieg heitsposition. betroffenen Aktuell ist die gesellschaftliche Linke in Deutschland eher zerrissen. Menschen in der Einerseits werden Waffenlieferungen als Ukraine. Ausdruck der Solidarität diskutiert, als Hilfe im Kampf gegen ein autokratisches Regime. Auf der anderen Seite steht die Betonung von nichtmilitärischen Wegen zum Frieden. Zu einem gerechten Frieden, in dem die Ukraine nicht aufgegeben wird. Das ist meine Position. Dann gibt es auch noch diejenigen, die mit Hinweis auf eine mögliche atomare Eskalation jegliche Einmischung ablehnen. Das, finde ich, geht nicht, denn irgendeine Antwort braucht es auf die russische Aggression, sonst sind als nächstes Moldawien und Georgien dran. ▼ Juni 2022 6 maldekstra #15Juni 2022 ▼ Gegenwärtig scheint es eine bedrückend breite Zustimmung für maximale Aufrüstung zu geben. Die Gegenkräfte sind nicht groß. Welche Argumente sprechen dafür, trotzdem gegen eine Politik der Abschreckung und Ausweitung der Aufrüstung zu reden? Ich bin kein Radikalpazifist. Ich finde es völlig in Ordnung, dass die Menschen in der Ukraine sich jetzt mit Waffen wehren. Aber meine Frage ist: Was kann die Bundesregierung am besten tun, um die Menschen in der Ukraine zu unterstützen? Da gibt es gerade nur diesen einseitigen Blick auf militärische Lösungen. Es ist kaum noch Natürlich erlaubt, zu sagen: Können wir auch müssen wir jetzt mal über andere Lösungen reden als nur über Waffen? Das ist eine Situation, alles unterlassen, die hätte ich nie für möglich gehalten. was eine langfristige Ich bin in einem Deutschland mit einer friedlichen Grundhaltung aufFriedensordnung gewachsen, das war im Westen in Europa genauso wie im Osten. Und heute ist verhindert. Pazifismus schon zum Schimpfwort geworden. Ich möchte aber über Alternativen reden. Und da stelle ich fest, dass die Bundesregierung, die Europäische Union, der Westen vieles unterlassen, was vielleicht helfen könnte, im Bereich der Sanktionen, der Diplomatie. Mittlerweile geht es offenbar für viele schon gar nicht mehr um Freiheit für die Ukraine, es geht um den Sieg. Sieg über Russland und die weitestgehende Zerstörung der russischen Armee. Und wenn es um Sieg geht, kannst du nur noch über Waffen reden, das verstehe ich. Aber ich möchte nicht über den Sieg reden. Ich will über einen gerechten Frieden reden. Die Linke ist schwach. Der Befund lässt sich nicht beschönigen. Marginalisiert. Siehst du hoffnungsvolle Ansätze – trotz dieses Befundes? Im Moment wenig. Bei vielen herrscht das Gefühl einer totalen Lähmung, vermischt auch mit einer Angst vor einer Ausweitung des Krieges. Ein sehr guter Ansatz war zum Beispiel der Appell gegen die 100-Milliarden-Aufrüstung, aber auch der ist verpufft in der tagesaktuellen Debatte um noch mehr und noch schwerere Waffen. Die Linke ist immer dafür kritisiert worden – jenseits des platten Generalvorwurfs, die könne keine Außenpolitik –, dass ihre Vorschläge für eine friedliche oder friedlichere Weltordnung einfach nicht ausreichend waren. Mehr Schlagworte als Konzepte. Siehst du das auch so, dass hier große Versäumnisse liegen? Ja, wir sind immer auf halber Strecke stehen geblieben. Ich habe mir noch mal unser Grundsatzprogramm angeschaut. Und ja, da steht: keine Waffenexporte, keine Auslandseinsätze, Bundeswehr zur Landesverteidigung, kooperatives Sicherheitssystem in Europa. Das ist alles richtig, auch heute noch. Aber was das konkret heißt, darüber haben wir viel zu wenig nachgedacht. Finnland ist das beste Beispiel, war immer neutral. Dass die in der jetzigen Situation unter einen militärischen Schutz schlüpfen wollen, verstehe ich völlig. Wir als Linke müssten, wenn wir Nein zur NATO sagen, diskutieren, wie dann die Alternative aussähe. Diese Debatten haben wir nicht geführt. Aber jetzt tun wir das. Wir werden in den nächsten Monaten eine intensive Debatte haben, das muss sehr viel konkreter werden. Wir können nicht nur mit wohlklingenden Grundsätzen durch die Welt laufen. Wir müssen auch sagen können, wie es im Einzelfall konkret zu machen ist. Bei dem Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick wäre die paradoxe Intervention an dieser Stelle der Vorschlag, dass sämtliche Länder der Welt Mitglied der NATO werden. In dem Moment wäre ich natürlich für die NATO. Wenn die 194 Mitglieder hat, nennen wir sie UNO, und alles ist gut. Aus welchen Schwächen nährt sich die Möglichkeit des Krieges noch? Es ist seit 1945 doch nicht gelungen, eine Weltgemeinschaft zu schmieden, die sich zumindest darauf einigen konnte, dass Kriege zu verhindern oberstes Gebot gemeinschaftlichen Handelns sein sollte. Es gibt auch da keine lebendige Debatte bei den Linken. Es gibt für mich zwei Klarheiten. Ich finde die UN-Charta richtig. Die beruht auf der Souveränität der Staaten. Und dann darf es keine militärischen Interventionen aus Menschenrechtserwägungen geben. Man darf also nicht in Saudi-Arabien einmarschieren, weil dort die Frauenrechte mit Füßen getreten werden. Ich akzeptiere diese Souveränität der Staaten, auf der Basis müsste Politik gemacht werden. Das Zweite ist, die Kompetenz der UN-Generalversammlung gegenüber dem Sicherheitsrat zu stärken, denn nur die Generalversammlung ist demokratisch, ein Land, eine Stimme. Hast du ein wenig historischen Optimismus, dass sich aus diesem Desaster heraus eine stärkere, breitere Bewegung für einen Frieden, der taugt, entwickeln wird? So etwas entwickelt sich nicht, das muss man machen. Und gegenwärtig fehlt die Kraft, die es macht. Heutzutage werden Bewegungen dann stark, wenn Menschen sehen, dass sie konkret etwas verändern können. Und wenn es Aktionsmöglichkeiten direkt vor Ort gibt. Deshalb glaube ich, dass zum Beispiel beim Thema Waffenexporte das Potenzial für eine größere Bewegung schlummert. Allerdings gab es bislang keine Kraft in Deutschland, die aus den vielen kleinen Aktivitäten gegen Waffenexporte eine große, schlagkräftige Bewegung hätte formen können. Auch die Linkspartei war nicht diese Kraft. Aber wir brauchen sie. Hast du Angst? Tatsächlich ja. Und das ist neu. Juni 2022 maldekstra #157 Tawakkul Karman Sie ist eines der bekanntesten Gesichter der Protestbewegung im Jemen, sowohl als Journalistin, Menschenrechtlerin als auch als Politikerin und Mitglied der Oppositionspartei al-Islah. 1979 als Tochter eines Politikers (ihr Vater war Justizminister unter Präsident Ali Abdullah Salih) in der Jemenitischen Arabischen Republik geboren, wusste sie von Haus aus, wie wichtig politischer Verstand ist, will man Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auseinanderhalten können und sich für die bessere Seite entscheiden. Gandhi und Mandela galten ihr als Vorbilder. 2011 organisierte sie mit vielen anderen Proteste und Studentendemonstrationen gegen die Regierung Salih, wurde verhaftet, wieder freigelassen, rief für den 3. Februar 2011 einen „Tag des Zorns“ aus, wurde erneut unter Arrest gestellt, bedroht, beschimpft – viel mehr aber bewundert und geschätzt für ihren Mut und ihre Unerschrockenheit. Im gleichen Jahr bekam Karman den Friedensnobelpreis für ihren gewaltfreien Kampf für die Sicherheit von Frauen und das Recht der Frauen, „sich in vollem Umfang an Frieden schaffender Arbeit zu beteiligen“. Sie war die erste Frau aus dem arabischen Raum, der dieser Preis verliehen wurde, und zugleich die bis dato jüngste Nobelpreisträgerin.  kg 8 maldekstra #15Juni 2022 Rheinmetall ist Solidarität Bei den Debatten um Krieg und Frieden wird gegenwärtig jedes Argument mit jeder politischen Haltung kombiniert. Von Raul Zelik Vor einigen Tagen saß ich mit dem Grünen Anton Hofreiter im Berliner Ensemble, bei einer Diskussionsveranstaltung zum 8. Mai. Es war, wie so vieles in diesen Wochen, eigenartig: Hofreiter, der bei den Grünen zum linken Flügel gehört und deshalb von den Partei-Granden als Landwirtschaftsminister verhindert wurde, warb mit linker, manchmal sogar antikapitalistischer Rhetorik für die Lieferung von NATO-Waffen an die Ukraine: Putins Russland sei eine imperialistische Kolonialmacht, beim Kampf um die Ukraine gehe es um die Verteidigung eines Vielvölkerstaats, auch russische Linke seien der Ansicht, dass der Autoritarismus in ihrem Land nur mit Panzern gestoppt werden könne. Auf meinen Hinweis, es sei doch vor allem ein Bombengeschäft, wenn man einerseits Waffen an die Ukraine verkaufe, andererseits aber täglich fast eine Milliarde Euro an Russland überweise, um den kapitalistischen Motor zu Hause am Laufen zu halten, erwiderte Hofreiter, der größte Widerstand gegen die Bekämpfung von Putin komme von den Konzernen. Es seien die kapitalistischen Großunternehmen, die das Gas- und Ölembargo verhinderten. Die Rüstungsindustrie hatte er mal eben kurz unterschlagen. Die Unterhaltung illustriert meiner Meinung nach gut, worin das Problem bei den Debatten um Krieg und Frieden im Augenblick besteht: Jedes Argument wird mit jeder politischen Haltung kombiniert. Ein Bundeswehrgeneral wirbt für eine diplomatische Lösung, weil „jeder Krieg fürchterlich ist“ (so Erich Vad, der rechtslastige Ex-Militärberater der Regierung Merkel), ein Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung ruft nach einer Flugverbotszone und damit nach einem Kriegseintritt der NATO, und ein führender Grüner inszeniert das Konjunkturprogramm für Rheinmetall & Co. als antikapitalistische Politik. Natürlich hat die allgemeine Diskursverwirrung auch damit zu tun, dass viele Akteure neben dem Fall auch ihre eigenen Interessen im Blick haben: Europäische Rechte sind gegen eine Kriegsbeteiligung, weil ihnen der Benzinpreis zu hoch ist und sie das transatlantische Bündnis mit den USA überwinden wollen. Liberale wittern die Gelegenheit, das Versagen im Kampf gegen den Autoritarismus im eigenen Land zu kaschieren, indem sie nun in die Schlacht gegen einen äußeren Feind ziehen. Und für die „politische Mitte“ ist es verständlicherweise erfreulich, wenn man das geopolitische Einflussgebiet erweitern und das auch noch als Solidarität vermarkten Politik an, stoppte aber doch immerhin insokann. fern den Abstieg Russlands, als er die StaatsSo sind auf dem Feld der „Realpolitik“ nur gegenüber den Firmeneliten stärkte. Anders noch falsche Optionen zu haben: schleichen- ausgedrückt: Der Plan des „freien Westens“ der Kriegseintritt oder Legitimation von Pu- hatte darin bestanden, Russland in einen subtins Autoritarismus. Konjunkturprogramm alternen, abhängigen Rohstoffexporteur zu für die Rüstungsindustrie oder Gleichgültig- verwandeln. Putins aggressiver Neoimperiakeit gegenüber den Menschen in der Ukraine. lismus eröffnete den russischen Eliten imSchulterschluss mit der NATO oder wohlfeile merhin die Möglichkeit, die Ausplünderung Aufforderungen an die Ukrainer*innen, doch der Ressourcen wieder auf Augenhöhe mit besser zu kapitulieren. Orwell’scher Neu- den Käufern zu verhandeln. sprech in alle Richtungen: „Rheinmetall heißt Die zweite große Kriegsursache ist das FehSolidarität“, „Putin ist Frieden“ … len einer europäischen Friedensordnung. Wer vor die falsche Wahl gestellt wird, tut Hört man den Debatten der Gegenwart zu, ganz gut daran, sich zu erinnern, was diekönnte man meinen, das Gegenteil sei se Lage eigentlich herbeigeführt der Fall: dass sich die westeuropäiWer hat, und danach zu überlegen, schen Länder seit dem Ende der vor die falsche wie eine politische Antwort Sowjetunion zu viel um die aussehen könnte. Wahl gestellt wird, politische Einbindung RussDie erste Ursache für dieund zu wenig um die tut ganz gut daran lands sen Krieg ist ganz zweifelsmilitärische Abschreckung ohne das „System Putin“ sich zu erinnern, was gekümmert hätten. Doch selbst, das entfesselte Ge- diese Lage eigentlich die Zahlen des Friedensforwalt schon lange zur Stabischungsinstituts SIPRI spreherbeigeführt lisierung nach innen und zur chen eine eindeutige Sprache: hat geopolitischen Aufwertung nach Seit Jahren geben die NATO-Veraußen nutzt. Ihre Wurzeln hat Pubündeten fast 20-mal so viel für Militins politökonomische Ordnung gleicher- tär und Aufrüstung aus wie Russland, nämlich maßen in den sowjetischen Geheimdienst- mehr als eine Billion US-Dollar jährlich. eliten wie im freien Weltmarkt – sarkastisch Nichts spricht dafür, dass noch höhere Rüszusammengefasst könnte man sagen: klep- tungsausgaben oder eine weitere Expansion tokratischer Neoliberalismus stalinistischer der NATO Europa sicherer machen werden. Prägung. Branko Milanović, ehemals als Chef- Sicher: Auch ohne geopolitische Konkurökonom der Weltbank in Russland, hat in ei- renz mit der NATO hätte sich ein russischer nem Interview dieser Tage noch einmal daran Staatschef zu einer aggressiv-militaristischen erinnert, wie Russland in den 1990er Jahren Politik entschließen und die Ukraine überfaktisch zur Beute eines Raubtierkapitalis- fallen können. Der nationalistische Phantommus gemacht wurde. Unterstützt von westli- schmerz über den Zerfall des Reichs ist in der chen Politikberatern, liquidierte der alkohol- russischen Rechten groß genug. Aber ein mulkranke Präsident Boris Jelzin das eigene Land, tilaterales Friedenssystem mit unabhängigen privatisierte die Staatsunternehmen und eb- Schiedsinstanzen hätte einen solchen Krieg nete einer Bande skrupelloser Neureicher unwahrscheinlicher gemacht. Genau darauf das Terrain, die sich an die Ausplünderung haben die USA und die EU jedoch nach 1991 der Rohstoffreserven machten. Was für Im- verzichtet. Eine Friedensordnung, die durch mobilienmakler in London, die Inhaber von Abkommen und Überwachungsgremien auch Edel-Boutiquen überall am Mittelmeer und dem eigenen Vorgehen einen Riegel vorgeauf Milliardärsjachten spezialisierte Werften schoben hätte, war von ihnen ausdrücklich zu einem Riesengeschäft wurde, weil sie die nicht erwünscht. Dieses Fehlen eines multiunmittelbaren Nutznießer des postsowjeti- lateralen Sicherheitssystems und der Verzicht schen Luxuskonsums waren, bedeutete für auf eine Demokratisierung von UNO und Russland eine brutale Verarmung. Die durch- Weltordnung haben uns an den Rand eines schnittliche Lebenswartung der Russ*innen großen Krieges manövriert. fiel auf 65 Jahre, Kriminalität und Gewalt Doch egal, ob man Springer, Spiegel oder machten sich im Alltag breit, die Mordra- die taz aufschlägt – in diesen Wochen hallt eite explodierte. Ein zerfallendes Imperium nem überall dieselbe Botschaft entgegen: Der auf dem Weg in die Dritte Welt. Putin, selbst Pazifismus ist schuld oder war zumindest auf Zögling des Jelzin-Apparats, knüpfte an diese unverantwortliche Weise naiv. Was an dieser Juni 2022 maldekstra #159 Pazifismus Voller Menschenliebe und voller Enttäuschungen Von Sigrun Matthiesen Raul Zelik ist Schriftsteller, Journalist, Übersetzer und Politikwissenschaftler. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist Lateinamerika. Sowjetunion populär – Atom- oder Nuklearpazifismus. Diese Kapitel beziehen sich vor allem auf Aktivist*innen und Denker*innen aus Europa, Russland sowie den USA. Im nächsten Teil werden unter der Überschrift „Geschichte und Wirkung“ auch Schlaglichter gesetzt auf fernöstliche Religionen, die griechisch-römische Antike, Judentum, Christentum, die frühe Neuzeit und die Aufklärung. Fünf Kapitel allein widmen sich der Periode vom 19. Jahrhundert bis zum Kosovo-Krieg. Auch wenn die jüngst ausgerufene „Zeitenwende“ in diesem Wikipedia-Text noch unberücksichtigt bleibt, so lassen sich doch mindestens zwei Lehren aus der Geschichte ziehen. Erstens: Stark war Pazifismus immer dann, wenn neue Waffen unkontrollierbar erschienen. Das gilt für Senfgas im Ersten Weltkrieg wie für die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Sobald die Behauptung von „gezielten Operationen“ – ob nun gegen feindliche Partisanen, angebliche Terroristen oder strategische Ziele – plausibel erscheint, schwächelt der Pazifismus. Zweitens: Je autoritärer ein Regime, desto weniger duldet es Pazifismus – immer und überall. Bleibt noch die Gretchenfrage „Wie hältst du es mit der Gewalt?“, der Pazifist*innen zu keiner Zeit je entrinnen konnten. Der Wikipedia-Eintrag beantwortet sie relativ zu Anfang, indem er ein ganzes Spektrum von „engeren“ und „weiteren“ Pazifismus-Deutungen aufzeigt, einschließlich kategorischer und weniger kategorischer Ablehnung jeglicher oder nur militärischer Gewalt. Der blaue Helm Schiedsrichter, Streitschlichter, Blauhelme – die Grundidee ist erst mal ähnlich: Wenn zwei sich streiten, braucht es eine*n unbeteiligte*n Dritte*n, der*die sich eben nicht freut, sondern die Streitenden zur Vernunft bringt. Was unter den gegebenen Umständen allerdings Vernunft bedeutet, ist auf dem Schulhof eben doch etwas sehr anderes als im bewaffneten Konflikt. UN-Blauhelme, so legen es die Statuten fest, können Friedensverhandlungen oder auch nur einen Waffenstillstand nicht erzwingen, sondern nur deren Einhaltung überwachen. Dazu bedarf es der Zustimmung beider Konfliktparteien und eines Beschlusses im UN-Sicherheitsrat. Seit dem ersten, unbewaffneten Blauhelm-Einsatz 1948 in Palästina gab es über 70 weitere UN-Friedensmissionen. Aktuell sind es 22, von denen die meisten auf dem afrikanischen Kontinent stattfinden. Fast alle sind als sogenanntes „robustes Mandat“ angelegt, die Blauhelm-Soldat*innen dürfen also auch selbst zu Waffen greifen, um ihre Mission zu verteidigen. Die Grenzen zwischen Friedenssicherung und militärischer Intervention verschwimmen also zunehmend, wie es beispielsweise Operation MINUSMA in Mali zeigt. Dort finden sich neben den Blauhelmen auch Kräfte einer EU-Mission zur Unterstützung von Polizei und Militär, und eine französische Militärmission bekämpft islamistische Gruppen. Wer wann wo das Sagen hat und welche Ziele vorrangig durch- gesetzt werden sollen, ist oft unklar. Die Zivilbevölkerung fühlt sich folglich weniger geschützt als bedroht, auch von Blauhelmen. Allein 2021 gab es 451 Hinweise auf sexualisierte Gewalt durch UN-Einsatzkräfte. Weswegen sich der UN-Generalsekretär, operativ verantwortlich für jeden Einsatz, seit 2017 verstärkt um eine bessere Einbindung von lokalen sowie weiblichen Einsatzkräften bemüht. Entsandt werden Blauhelm-Soldat*innen gemäß UN-Statut durch die Mitgliedsstaaten. Von den derzeit rund 75.000 aktiven Einsatzkräften stammt der überwiegende Teil aus armen Ländern wie Äthiopien, das allein ungefähr 8.000 Personen stellt. Pro Blauhelm-Soldat*in bekommen die sie stellenden Länder monatlich 1.600 US-Dollar. Das hat im globalen Norden kaum ein Staatshaushalt nötig, dort unterstützt man UN-Missionen vorzugsweise mit Geld. Höchst unterschiedliche Motivationen und Interessen also, die es vor Ort nicht unbedingt leichter machen, den ursprünglichen Konflikt zu lösen. Denn wer kann sich in einer globalisierten Welt schon wirklich als unbeteiligter Dritter bezeichnen? Immerhin, die UNO ist sich des Problems bewusst und arbeitet an einer Strategie für die Zukunft der Friedensmissionen. Die Zivilgesellschaft ist ausdrücklich zur Beteiligung aufgefordert: https://peacekeeping.un.org/en/future-ofpeacekeeping. sim ▼ Aussage stimmt? Lässt man die letzten 30 Jahre Revue passieren, gibt es eine ganze Menge, was einem viel eher einfallen könnte. Die neoliberale Politik der Wirtschaftsschocks zum Beispiel, die die russische Gesellschaft in den frühen 1990er Jahren regelrecht zertrümmert hat. Die brutale soziale Ungleichheit, aus der das System Putin hervorgegangen ist. Eine Weltwirtschaft, in der man – wenn man nicht gerade zu den führenden Industrienationen gehört – zur Beute wird oder sich mit aggressivem Nationalismus eine Nische eröffnet. Die erwähnte Weigerung des „Westens“, die UNO zu demokratisieren. Das Fehlen einer inklusiven internationalen Friedensordnung. Der Aufrüstungswahnsinn. Der Nationalismus – in Russland, aber nicht nur dort. Die Abkehr vom Vielvölkerstaat. Der Stalinismus. Die Macht der Geheimdienste und Konzerneigentümer. Über all dies könnte man als Lehre aus dem russischen Angriffskrieg sprechen. Stattdessen werden wir mit falschen Alternativen bombardiert. Wir sollten uns nicht damit abfinden. Die Geschichte des Pazifismus verstehen, in einer knappen halben Stunde? Das geht, Wikipedia sei Dank. Das Autor*innen-Team fasst hier in wirklich beeindruckender Weise zusammen, was viele kluge Menschen seit über 150 Jahren gedacht und aufgeschrieben haben zu jener „weltanschaulichen Strömung, die jeglichen Krieg als Mittel der Auseinandersetzung ablehnt und den Verzicht auf Rüstung und militärische Ausbildung fordert“. Der Text, als pdf heruntergeladen knapp 30 Seiten lang, beginnt mit einer Klärung dieses von den lateinischen Wörtern „pax“ für Frieden und „facere“ abstammenden Begriffs. In seiner heutigen Form wurde er wohl erst 1901 geprägt, durch Émile Arnaud, den damaligen Präsidenten der Internationalen Liga für Frieden und Freiheit. Ihm war es wichtig, ein Wort zu finden, das den aktiven Einsatz, also den Kampf für den Frieden betont: „Wir sind nicht nur friedlich, wir sind nicht nur friedfertig, wir sind nicht nur friedensstiftend. Wir sind alles zusammen und noch mehr: Wir sind, in einem Wort, Pazifisten.“ Was das aber nun konkret bedeutet, war seitdem so umstritten wie heute und schon immer ebenso abhängig von der jeweiligen Weltlage wie der politischen, weltanschaulichen und moralischen Verortung derjenigen, die sich als Pazifisten bezeichnen. Allein im späten 19. und 20. Jahrhundert macht das Autor*innen-Team sieben historische Strömungen des Pazifismus aus: religiös, bürgerlich, wissenschaftlich oder organisatorisch, radikal, revolutionär, anarchistisch und – mindestens bis zum Ende der 10 maldekstra #15Juni 2022 Mohandas Karamchand Gandhi, genannt Mahatma Gandhi 31 Jahre war er alt, als das neue Jahrhundert begann. Das 20. Jahrhundert, in dem zwei Weltkriege stattfinden würden und die atomare Bedrohung eine ganz neue, schreckliche Qualität menschlicher Destruktivität real werden ließ. Der 1869 geborene Rechtsanwalt, Publizist und Morallehrer wurde zum geistigen und politischen Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Über ihn sind Bücher geschrieben und Filme gemacht worden (großartig Ben Kingsley in Richard Attenborougs Film „Gandhi“). Denn wie kaum ein anderer steht er für gewaltlosen politischen Kampf, für den er in Südafrika, wo er zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Gleichberechtigung der Inder eintrat, Methoden entwickelte, die bis heute ihre Gültigkeit haben. Er war einer der Ersten, die den Hungerstreik als politische Waffe verstanden. Gewaltfreie Aktionen und ziviler Ungehorsam – beides ist untrennbar mit seinem Namen verbunden. Die indische Unabhängigkeitsbewegung nahm seine Ideen auf, 1947 endete die britische Kolonialherrschaft über Indien. Mahatma Gandhi hat acht Jahre im Gefängnis gesessen – in Südafrika und in Indien. Immer wieder hat er in seinen Schriften über „Satyagraha“ geschrieben, das Beharren auf der Wahrheit, über „Ahimsa“, die Gewaltlosigkeit des Widerstande, über die Notwendigkeit der politischen Selbstkontrolle und der Selbstbestimmung. Eine Demokratie, die auf Gewaltlosigkeit gründe, so meinte Gandhi, nähere sich am stärksten dem „reinen Anarchismus“ an. 1920 rief er die „Kampagne der Nichtkooperation“ aus. Es sei nicht möglich, dass 100.000 Brit*innen über 300 Millionen Inder*innen herrschten, wenn Letztere jegliche Kooperation verweigerten. Ziviler Ungehorsam, dafür stand auch der „Salzmarsch“, der 1930 als gewaltloser Widerstand gegen das britische Salzmonopol begann. Es war der längste Protestmarsch aller Zeiten. Gandhi starb am 30. Januar 1948 durch einen Schuss, den ein fanatisch-nationalistischer Hindu abgab. Durch Gewalt also. Obwohl mehrfach nominiert, auch im Jahr seines Todes, erhielt er nie den Friedensnobelpreis.  kg ▼ Hilfreicher ist hier vielleicht der 2007 veröffentliche Aufsatz des Philosophen Olaf L. Müller, der Pazifismus als Weltsicht definiert, die auf drei erkenntnistheoretischen Imperativen beruhe: einem zur Natur des Menschen, einem zugunsten friedfertiger Alternativen und einem bezüglich unkontrollierbarer Eskalationen. Daraus ergebe sich politisch, dass „der Pazifist weitaus länger als seine Gegnerin versucht, Interpretationen für das Verhalten des Feindes ausfindig zu machen, die ihn nicht dämonisieren; er wird sich länger gegen angeblich faktische Behauptungen zur Wehr setzen wie zum Beispiel: Dies ist eine Regierung von Rassisten und Mördern.“ Zweitens „wird er weitaus länger als seine Gegnerin versuchen, gewaltlose Handlungswege ausfindig zu machen, die zur Beendigung eines gefährlichen Konflikts führen; er wird sich länger gegen angeblich faktische Behauptungen zur Wehr setzen wie: Uns bleibt nichts anderes übrig, als einen Krieg zu beginnen. (…) Und drittens „wird er weitaus sensibler als seine Gegnerin für die kleinsten Anzeichen von Katastrophe sein; er wird sich länger gegen angeblich faktische Behauptungen zur Wehr setzen wie zum Beispiel: Alles ist unter Kontrolle; wir haben alle möglichen Folgen unseres militärischen Einsatzes einkalkuliert, und obwohl es ein paar Kollateralschäden geben wird, sind wir mit Sicherheit in der Lage, das Schlimmste zu verhindern“. Aus dieser so häufig diffamierten Weltsicht folge, so Müllers Schluss, ein Leben voller Menschenliebe. Und damit zwangsläufig auch voller Enttäuschungen. de.wikipedia.org/wiki/Pazifismus www.philosophie.hu-berlin.de/de/lehrbereiche/natur/mitarbeiter/mueller/texte/rp maldekstra #1511 Ökonomisch strafen? Wer Sanktionen verhängt, muss immer Fragen der Ethik stellen und beantworten. Von Sebastian Thieme Wirtschaftliche Sanktionen lassen sich aus (rein) ökonomischer Sicht als Notwendigkeit begreifen, um einen bestimmten rechtlichen Ordnungsrahmen aufrechtzuerhalten. Im Sinne der Neuen Institutsökonomik oder auch der (ökonomistischen) Ethik mit ökonomischer Methode (Ordnungsethik) müssen die Regeln, die ein gewünschtes Wirtschaften fördern und ungewünschte Handlungen stilllegen sollen, durch Sanktionen begleitet sein. Sanktionen können aber auch ganz im Sinne von Max Webers „Macht“ und „Kampf“ als Kampfmittel dafür verstanden werden, eine bestimmte politische Vorstellung gegen den Widerstand anderer durchzusetzen. Darum soll es nachfolgend gehen. Solche Sanktionen als wirtschaftliche Strafmaßnahmen können zum Beispiel Einreiseverbote und Kontensperrung umfassen oder Importe und Exporte sowie die Nutzung von Verkehrswegen (Schiffs- und Flugverkehr) und Finanztransaktionen verbieten. Wirtschaftliche Sanktionen können allgemein und umfassend die Wirtschaft eines Landes oder gezielt bestimmte Produkte, Branchen und Personengruppen betreffen („smart sanc­ tions“). Zwecke von Sanktionen können zum Beispiel sein, Gewalthandlungen präventiv zu vermeiden, Kampfhandlungen zu begrenzen, Menschen- und Völkerrecht einzuhalten, den Wechsel einer Regierung zu begünstigen (Regime Change) oder sogar die politische Lage in einem Land zu destabilisieren. Die mit Sanktionen verbundenen Zwecke sind für eine ethische Erwägung höchst relevant, denn wenn es Zweifel an den Zwecken gibt, sind auch die entsprechenden Sanktionen zweifelhaft. Darüber hinaus sollte eine ethische Abwägung auch berücksichtigen, ob Sanktionen erreichen können, was sie bezwecken sollen, und ob mögliche Folgen abseits der gewünschten Sanktionswirkung zu befürchten sind. Genau an dem Punkt wird es bereits sehr schwierig, denn der Anteil erfolgreicher Sanktionen liegt – je nach Studie – bei einem Drittel, teils wird die Wirkung aber noch pessimistischer eingeschätzt. Dabei ist die Einschätzung des Erfolgs von Sanktionen keineswegs einfach, sondern zum Teil erheblich erschwert, wenn sich wirtschaftliche Entwicklungen – wie der Fall des Ölpreises – mit Sanktionen überlagern. In der Literatur werden jedenfalls verschiedene Gründe genannt, die zum Pessimismus gegenüber Sanktionen mahnen: Gewalttätige Auseinandersetzungen können durch Sanktionen eine Intensivierung erfahren und Verhandlungslösungen in die Ferne rücken lassen. Bereits die Ankündigung von Sanktionen kann das Konfliktpotenzial erhöhen, wenn die Konfliktparteien ihre Position verbessern wollen, bevor die Sanktionen greifen. Sanktionen können sich als kontraproduktiv erweisen, wenn sie die Regierungen der sanktionierten Länder und mögliche Autarkiebestrebungen stärken sowie demokratisierende Bewegungen (politische Opposition) schwächen. Diese Tendenz ist im Fall der Sanktionen gegen Russland 2014 zu beob- Es war einmal … … vor nicht allzu langer Zeit. Am 3. Januar 2022 wurde eine gemeinsame Erklärung der fünf ständigen Mitglieder im UNO-Sicherheitsrat (USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien) veröffentlicht, in der es hieß: „Wir glauben zutiefst, dass eine weitere Ausbreitung solcher Waffen verhindert werden muss. (…) Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden.“ Mit dem Krieg, den Russland am 24. Februar gegen das Nachbarland Ukraine begann, scheint diese Erklärung keine Sicherheit mehr zu versprechen. Der „Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen“ (Atomwaffensperrvertrag) wurde am 1. Juli 1968 von den USA, der Sow­jetunion und Großbritannien unterzeichnet, trat am 5. März 1970 in Kraft, 2015 haben ihn 191 Vertragsstaaten unterzeichnet beziehungsweise akzessiert. Indien, Israel, Pakistan und Südsudan wurden nicht Mitglied, Nordkorea trat 2003 aus. Der Vertrag beinhaltet auch den Verzicht der Unterzeichnerstaaten, die nicht über Kernwaffen verfügen, darauf, welche zu erwerben. Jene Staaten, die vor dem 1. Januar 1967 eine Atomwaffe gezündet hatten, galten und gelten mit dem Vertrag als Atommächte. Ihr Angebot damals lautete, redlich darüber zu verhandeln, wie sich auf lange Sicht allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle bewerkstelligen lässt. Klingt wie ein Märchen. Ist ein Märchen. Laut Vertrag steht jedem Mitgliedsland die Möglichkeit ziviler Atomprogramme zu. Regelmäßig fanden Überprüfungskonferenzen statt, die letzte im Jahr 2015, denn obwohl der Ursprungsvertrag nur 25 Jahre Gültigkeit hatte, wurde er 1995 auf unbestimmte Zeit verlängert. Keine der Atommächte hat ernsthafte Bemühungen gezeigt, einmal versprochene Abrüstungsverpflichtungen umzusetzen. Und da die fünf Atommächte bis vor kurzem zugleich die fünf Mitglieder im UNO-Sicherheitsrat waren, konnten sie auch jegliche Bestrebung in diese Richtung blockieren. Von der Abschaffung von Atomwaffen ist die Welt weit entfernt. Über eigene Sanktionsinstrumente verfügt der Vertrag nicht, insofern war und blieb es auch recht folgenlos, wenn Staaten ihn unterliefen. Kontrolliert wird die Einhaltung des Vertrages durch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO), deren Befugnisse und Möglichkeiten jedoch nicht allzu weit reichen. Die Erklärung vom 3. Januar 2022 klingt heute wie abgeschlossene Vergangenheit. Eine fürchterlich bedrohliche Entwicklung. kg ▼ Juni 2022 12 maldekstra #15Juni 2022 ▼ achten gewesen: Die Popularität der rus- abhängig sind. Letzteres wird zum Beispiel im sischen Regierungsspitze nahm zu und die Fall der Sanktionen gegen Russland 2022 zu russische Administration versuchte, andere bedenken gegeben, denn diese können sich Allianzen zu schmieden (China, Indien, Bra- auch auf russische Anrainerstaaten wie Tadsilien etc.), um die Abhängigkeit von der EU schikistan oder Kirgistan auswirken. Ist das zu als Haupthandelspartner zu verringern, so- verantworten? wie eine Alternative zum FinanzinformaSanktionen können politisch auch als Symtionsdienst SWIFT zu etablieren. Im Fall der bol dafür gelten, den Worten – Mahnungen Sanktionen gegen Russland 2022 fällt auf, usw. – Taten folgen zu lassen. Das mag außendass sich viele Länder den Sanktionen nicht politische Signale setzen, um zum Beispiel anschlossen (zum Beispiel Eritrea, Südafrika, bestimmte Handlungen eines (sanktionierChina, Brasilien und Indien) – der russischen ten) Staates sehr deutlich zu verurteilen. Aber Administration also Allianzen möglich sind, Sanktionen können auch dem innenpolitium die Sanktionen zu unterlaufen („sanction schen Motiv folgen, sich als aktiv, handlungsbusting“). fähig usw. darzustellen. Aus der Perspektive Sanktionen können bereits nach wenigen politisch handelnder Akteure mag das, vor alJahren an Wirkungskraft verlieren, lem in Situationen wie dem Ukraiindem sich sanktionierte Länder ne-Krieg 2022, so verlockend wie Der Erfolg an die Situation anpassen. verständlich sein. Aber aus ethiWo es den Sanktionen scher Sicht wirft es zumindest von Sanktionen an klaren Zielen fehlt, beist alles andere als Fragen auf, wenn die Unwägsteht die Gefahr, dass unbarkeiten etwaiger Sanktiunstrittig. Die klar ist, wann sie zu beenonsfolgen, die Kosten usw. Wirkungen lassen den sind, und Sanktionen für einen solchen Symbollänger als nötig aktiv bleiwert in Kauf genommen wersich nicht einfach ben. Wohl auch deshalb betoden. kalkulieren. nen Julia Grauvogel und ChrisÜberhaupt sollte mitbedacht tian von Soest in einem Beitrag für werden, dass Sanktionen auch für die Bundeszentrale für politische Bildung die sanktionierenden Staaten mit Kos(2018), dass es bei Sanktionen zentral sei, den ten verbunden sein können. Maarten Smeets Ausstieg aus einem Sanktionsregime von An- vom World Trade Institut schrieb 2019 treffang an mitzudenken. Ansonsten kann, so lie- fend: „Those taking the sanctions may end up ße sich daran anschließend befürchten, eine shooting themselves in the foot“ („Wer SankSanktions- und Eskalationsspirale drohen. tionen ergreift, könnte sich am Ende selbst Ethisch abzuwägen wären auch die mögli- in den Fuß schießen“). Genau darum geht es chen Folgen für die Bevölkerung im sanktio- aktuell in einem unerbittlichen Streit unter nierten Land. Faktisch wird diese nämlich in deutschen Ökonominnen und Ökonomen, der Sippenhaft genommen. Ein so prominentes die Kosten eines Gasembargos gegen Russland wie bedenkliches Beispiel dafür bietet die be- zum Gegenstand hat. In dem Kontext werden kannte Behauptung der im März 2022 verstor- aber auch verteilungspolitische Fragen aufgebenen ehemaligen Außenministerin der USA, worfen: Wie sind diese Kosten der SanktionieMadeleine Albright, das US-amerikanische rung anderer Länder im Inland zu verteilen? Embargo gegen den Irak sei den Preis – etwa Wer trägt sie? Können und sollen soziale Häreine halbe Million toter Kinder – wert gewe- ten effektiv abgefedert werden? Sanktionen sen. Darüber hinaus können Sanktionen ne- können in diesem Kontext also auch für sozigative Wirkungen auf Länder haben, die wirt- ales Konfliktpotenzial sorgen. Exemplarisch schaftlich von den sanktionierten Ländern dafür steht die lapidare Behauptung eines ehemaligen Bundespräsidenten in der Debatte um ein Gasembargo, „wir“ könnten für die Freiheit auch einmal frieren. Zusammengenommen ergibt sich also ein eher ernüchterndes Bild: Der Erfolg von Sanktionen ist alles andere als unstrittig. Die Wirkungen lassen sich nicht einfach kalkulieren. Immer steht die Gefahr nicht intendierter Wirkungen und blinder Flecken im Raum. Diese ist umso größer, je stärker das politische Klima durch den Sachzwang des Affekts, simple Feinbilder sowie eine Rhetorik des Krieges geprägt wird. Wo ein Ende der Sanktionen nicht mitgedacht wird, mögen sie sich als Aktionismus bis Populismus entlarven und im schlimmsten Fall in eine Eskalationsspirale führen. Ethisch geboten wäre, das Ziel der Sanktionen und dessen ethische Legitimität zu hinterfragen. Geht es um die zügige Einstellung von Kriegshandlungen, das Retten von Menschenleben? Wenn ja, sind die beabsichtigten Sanktionen das geeignete Mittel dazu? Wenn nicht, worauf zielen die Sanktionen dann ab? Geht es in Wirklichkeit darum, einen Wirtschaftskrieg zu führen? Es existieren viele Gründe, aus denen heraus es ethisch legitim ist, wirtschaftlichen Sanktionen mit Skepsis gegenüberzutreten und davon Abstand zu nehmen. Die ethisch nicht bequeme Aufgabe bestünde dann darin, in solchen Konflikten Eskalationen zu vermeiden, Eskalationsspiralen zu durchbrechen und dann vor allem abseits militärischer Optionen nach Verhandlungslösungen zu suchen. Dr. Sebastian Thieme ist Ökonom mit den Schwerpunkten Plurale Ökonomik, Selbsterhaltung und ökonomische Misanthropie. Er lebt in Wien. https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/ dossier-kriege-konflikte/269396/sanktionenals-instrument-der-konfliktbearbeitung/ https://www.taylorfrancis.com/chapters/edit/ 10.4324/9780429464041-5/theory-practiceeconomic-sanctions-maarten-smeets Positiver Frieden Tatsächlich gibt es so etwas wie einen negativen Friedensbegriff. Im Sinne zwar der Abwesenheit von Krieg und organisierter militärischer Gewalt, jedoch nicht gekennzeichnet durch die gleichzeitige Abwesenheit von struktureller Gewalt. Der Begriff des „positiven Friedens“ geht auf den Norweger Johan Galtung zurück, der als Gründungsvater der Friedens- und Konfliktforschung gilt. Er versteht „negativen Frieden“ als die strukturell, also von Werten, Normen, Institutionen oder Machtverhältnissen bedingte vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender Bedürfnisse. Die Diskrepanz zwischen Gegebenem und Möglichem, ließe sich sagen. Darin eingeschlossen sind alle Formen der Diskriminierung, Ausbeutung, ungleichen Verteilung von Einkommen und Bildungschancen. „Positiver Frieden“ braucht die Abwesenheit organisierter kollektiver Gewalt, erschöpft sich aber nicht darin. Vielmehr sei er ein Prozess, in dem gerechte sozioökonomische und politische Verhältnisse ge- schaffen werden. Ihm ging es um eine Struktur, die Solidarität in Freiheit begründet, sich auf Autonomie, Partizipation und Kooperation stützt. Galtung ist Soziologe, Politikwissenschaftler und Mathematiker. Für die Definition des „positiven Friedens“ entwickelte er zehn konsensuelle Werte: Anwesenheit von Kooperation, Freiheit von Furcht, Freiheit von Mangel, Wirtschaftswachstum und Entwicklung, Mangel an Ausbeutung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Handlungsfreiheit, Pluralismus, Dynamik. Fast immer ist strukturelle Gewalt Ausgangspunkt und Ursache für den gewaltförmigen Ausbruch von Konflikten. Aber auch in „Friedenszeiten“ sind diese Gewalt, Ungleichheit, Diskriminierung, Armut prägend für unsere Gegenwart. Der „positive Frieden“ ist und bleibt also etwas, das wir nicht haben, aber anstreben sollten. kg Juni 2022 maldekstra #1513 Fridtjof Nansen Norweger. Zoologe, Polarforscher, Ozeanograf, Diplomat, Friedensnobelpreisträger – Nansen war eine Ausnahme-Erscheinung und einer, der sich für jene starkmachte, die aus verschiedensten Gründen, von denen die meisten mit Krieg und Zerstörung zu tun hatten, fliehen mussten und so einen recht- und schutzlosen Status innehatten, der ihnen ständige Bedrohung und sich stets erneuernden Verlust beschied. 1861 in wohlhabendem Hause geboren, wuchs er in Christiania und auf einem ländlichen Anwesen auf. Er war sportlich, wagemutig, neugierig, klug. Seine Polarexpeditionen legendär, sein Forscherdrang groß, sein Kampf für ein unabhängiges Norwegen unermüdlich, sein diplomatisches Geschick anerkannt. Norwegen erklärte bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges auch auf sein Bestreben hin seine Neutralität – diese lange Ära wird bald vorbei sein, was Nansen wahrscheinlich nicht gefiele. Nachdem 1919 auf der Pariser Friedenskonferenz der Beschluss gefasst worden war, einen Völkerbund zu gründen, um künftig Streitigkeiten friedlich lösen zu können, war es Nansen, der Norwegen ein Jahr später zur Vollmitgliedschaft führte. Nach ihm ist jener Pass benannt (NansenPass), der für staatenlose Flüchtlinge und Emigrant*innen die Rettung sein kann und vielen Rettung war. Nansen wurde erster Hochkommissar für Flüchtlingsfragen des Völkerbundes. Er glaubte an die Kraft internationaler Organisationen und die schützende Hand, die sie besonders für kleine Staaten sein könnten, wenn sie nur ausreichend der Abrüstung und friedlichen Beilegung von Konflikten dienten. Einer wie er hätte es gegenwärtig nicht leicht, würde aber dringend gebraucht. kg 14 maldekstra #15Juni 2022 Zuerst der Verteidigungskampf, die Friedenstaube später Polen: zum Krieg gegen die Ukraine aus Sicht unmittelbarer Nachbarn Von Holger Politt Kontext, so dass die angeführten Vergleiche in jedem Fall auch hinken, doch ganz vom Tisch gefegt werden sollten die als Warnung verstandenen Jahreszahlen dennoch nicht. Ratsam ist es deshalb, sich einer anderen bemerkenswerten Erscheinung in der Haltung zu diesem Krieg zuzuwenden. Die gewaltigen Demonstrationen mehrerer hunderttausend Menschen, die gleich in den ersten Tagen nach Kriegsbeginn in Berlin oder Köln gegen Putins Feldzug protestierten, sind in ihrem momentanen Zusammenhalt, in ihrem Ausmaß und in ihrer klaren, gegen den Krieg gerichteten Botschaft heute nicht mehr wiederholbar. Zu unterschiedlich ist mittlerweile die Wahrnehmung, kaum noch vereinbar scheinen jetzt die aufgezeigten oder vorgeschlagenen Wege, auf denen der Aggressor in die Schranken gewiesen werden soll, um einen dauerhaften Frieden schließen zu können. Risse dieser Art zeigen sich wohl überall, indes fällt auf, dass die Gewichtungen der jeweiligen Meinungen sehr unterschiedlich ausfallen können. Denn was in Deutschland eine Mehrheitsmeinung ist, wird in Ländern wie Polen, Estland, Lettland oder Litauen nur noch von einer verschwindend kleinen Minderheit geteilt. Hoffnung Helsinki Es waren viele Konferenzen, die unter dem Singular „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) firmierten. Die erste fand auf Initiative der damaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages im Juli 1973 in Helsinki statt. 35 Staaten, darunter die USA, Kanada, die Sowjetunion, sämtliche europäischen Staaten bis auf Albanien und Andorra (beide kamen erst später zur KSZE), nahmen teil. Schon in den 1950er Jahren wurde angeregt, eine europäische Sicherheitskonferenz einzuberufen, 1966 verabschiedete die Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses (PBA) des Warschauer Vertrages in Bukarest die „Deklaration über die Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa“ und schlug die Einberufung einer Konferenz vor. Erklärtes Ziel war die Auflösung der beiden bestehenden Allianzen und die Verdrängung der USA aus Europa. Damals kam der Begriff „System zur kollektiven Sicherheit“ in die Welt, niedergeschrieben im April 1967 in der sogenannten „Karlsbader Erklärung“ am Ende einer Tagung der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas. Dann kamen der Einmarsch der Warschauer Vertragsstaaten in die Tschechoslowakei und die damit einhergehende blutige Niederschlagung der Reformbewegung. Trotzdem kam es 1969 zur Bereitschaftserklärung beider Seiten, Themen für gemeinsame Verhandlungen über Sicherheit und Zusammenarbeit zu erörtern. Finnland schlug vor, Vorbereitungstreffen und Konferenz in Helsinki abzuhalten, ein erstes Treffen fand im März 1971 statt. Die eigentliche Konferenz wurde im Juli 1973 in Helsinki eröffnet. Sieben Staaten des Warschauer Vertrages, 13 neutrale Länder und 15 NATO-Staaten nahmen teil, BRD und DDR gleichberechtigt. Das war schon ein Durchbruch. Am 1. August 1975 wurde die KSZE-Schlussakte in Helsinki unterschrieben. Darin verpflichteten sich die unterzeichnenden Staaten zur Unverletzlichkeit der Grenzen, zur friedlichen Regelung von Streitfällen und zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Ein Meilenstein. Von dem wir heute meilenweit entfernt sind. kg ▼ Der von Russlands Staatspräsident Wladi- Frontlinie im Polnisch-Sowjetischen Krieg im mir Putin mit vorgeschobenen Gründen am Jahre 1920, die im Mai noch bei Kiew verlief, 24. Februar 2022 vom Zaun gebrochene An- im August bereits vor den Toren Warschaus griffskrieg gegen die Ukraine ist nun zum stand, um im Oktober wieder weit im Osten in wichtigsten politischen Faktum des Jahres tiefe Gebiete von Belarus und der Ukraine zu erwachsen. Putins Erklärungen, weshalb das schneiden. Nachbarland mit militärischen Mitteln aller Putins aktueller Feldzug, der ja tatsächlich Art überfallen werden musste, wechein Angriffskrieg Russlands gegen die seln seither von einem abstrusen Ukraine ist, wirkt jedenfalls wie Was in Vorwurf zum nächsten. Zuaus der Zeit gefallen, wenigsletzt verstieg er sich auf dem tens darin sind sich fast alle Deutschland Roten Platz in Moskau am einig. DementMehrheitsmeinung ist, Betrachter 9. Mai zu der Behauptung, sprechend wird schnell wird in Ländern wie Russland sei gezwungen nach Parallelen gesucht, gewesen, präventiv mit Polen, Estland, Lettland um das unglaubliche Geden geeigneten und vor alschehen in der Ukraine oder Litauen nur von lem militärischen Mitteln wenigstens der eigenen einer verschwindend historischen Erfahrung nävorzugehen, sonst hätte die kleinen Minderheit her zu bringen oder gar einZerstörung durch den Westen gedroht. Fast mutet solche zuordnen. In Tschechien oder geteilt. Argumentation an, als sei sie der der Slowakei wird gerne auf 1938 Zeit der Bürgerkriege und Interventiound 1968 verwiesen, in Polen hingenen in den Jahren 1918 bis 1920 entnommen, gen steht der September 1939 ganz an vordersals es in einem ständigen Auf und Ab vor allem ter Stelle, während in Estland, Lettland und um die Eroberung oder Verteidigung strategi- Litauen nun wieder sofort die sowjetische Anscher Landesecken ging. Eine gute Vorstellung nexion vom Juni 1940 gegenwärtig ist. Mosdavon, wie heftig da gegeneinander gefoch- kaus aktueller Krieg gegen die Ukraine hat ten wurde, bietet die schnelle Bewegung der ganz sicher einen anderen machtpolitischen Juni 2022 maldekstra #1515 Ella Michailowna Poljakowa In Russland für Frieden und Menschenrechte zu streiten ist ein gefährliches Unterfangen. Der Staat geht mit allen Mitteln gegen Menschen wie Ella Michailowna Poljakowa vor. Sie wurde im Februar 1941 geboren, wenige Monate vor dem Überfall des Naziregimes auf die Sowjetunion am 22. Juni. Krieg überlebt, im damaligen Leningrad bis 1965 Elektrotechnik studiert, bis 1997 als Ingenieurin gearbeitet. Sechs Jahre zuvor wurde, maßgeblich durch sie, die Organisation „Soldatenmütter“ in St. Petersburg gegründet, Poljakowa wurde zwei Jahre später deren Vorsitzende. Bereits 1989 hatte sich die „Union der Komitees der Soldatenmütter Russlands“ gegründet. Sie erhielt 1996 den Alternativen Nobelpreis. Im Fokus: ein durch Schikanen und Übergriffe geprägtes System der Unterordnung in den russischen Streitkräften. So fing es an. Die Kritik wurde lauter, weitete sich aus. Menschenrechtsverletzungen bei Einsätzen der russischen Armee in Afghanistan, Tschetschenien und in der Ukraine. 2007 wurde die Aktivistin Poljakowa inhaftiert, dann wieder freigelassen. Drei Jahre später zog sie in den Präsidialrat der Russischen Föderation ein. 2014 setzte das russische Justizministerium die „Soldatenmütter“ auf die Liste sogenannter ausländischer Agenten. So müssen sich alle Organisationen nennen, die für ihre Arbeit finanzielle Unterstützung aus dem Ausland bekommen. Also Ella Poljakowa im Jahr 2015 den Hessischen Friedenspreis erhielt, schrieben die Zeitungen, sie zähle zu den wenigen Menschen in Russland, die Dinge beim Namen nennen. Immer wieder habe sie als Mitglied des Menschrechtsrates des russischen Präsidenten Anfragen gestellt, Klagen eingereicht. Ohne Erfolg. Ein großes Schweigen prägte das Land, aus der Angst geboren. Behörden schwiegen, Angehörige gefallener Soldaten wagten es nicht, den Mund aufzumachen. „Ich weiß nicht, welches Übel dieses Land noch erfahren muss, damit die Leute aufwachen. Die meisten Menschen sind komplett verunsichert. Das macht sie bösartig“, sagte Poljakowa 2015 in einem Interview. Sieben Jahre später ist es noch katastrophaler geworden.  kg 16 maldekstra #15Juni 2022 ▼ Der bislang auf dem Gebiet der Die vier angeführten über ein bedrohliches AtomLänder grenzen unmittel- Ukraine tobende Krieg waffenarsenal, habe sowiebar an Russland, haben – bis kann ohne weiteres in so angedeutet, es gegebeauf Estland – zudem längere nenfalls auch einzusetzen. einen gewaltigen oder kürzere Grenzen zu BeIn einem breiten Bogen finWeltkonflikt larus und stehen alle mit der den sich hier nun ganz unterumschlagen. Ukraine in einem engeren hisschiedliche Positionen wieder, torischen Bezug, den sonst niemand mehr innerhalb der Europäischen Union vorweisen könnte. Während in Deutschland die Diskussion entscheidend geprägt wird von der Angst, aus dem jetzt noch regional begrenzten blutigen Konflikt könnte ein größerer Flächenbrand entstehen, der sich schnell bis zum Atom- und damit Weltkrieg ausweiten werde, ist die vorherrschende Befürchtung hier eine gänzlich andere: Der bislang auf dem Gebiet der Ukraine tobende Krieg kann ohne Weiteres in einen gewaltigen Weltkonflikt umschlagen, wenn der Aggression nicht jetzt entschieden Einhalt geboten wird. Der Unterschied in den Konsequenzen liegt schnell auf der Hand. Im ersten Fall geht es schlicht darum, kein zusätzliches Öl ins Feuer zu gießen, denn ohnehin sei genügend Brennstoff in der und um die Ukraine angehäuft worden. Insbesondere wird aber eingeworfen, der Angreifer sei in seinem militärischen Potenzial derart überlegen, dass die Verteidiger ohnehin gar keine Chance mehr hätten, auf dem militärischen Feld einen Sieg auszufechten. Obendrein verfüge die angreifende Seite er reicht von denjenigen, die ein bedingungsloses „Waffen nieder!“ für beide Seiten sowie „kreative Diplomatie“ fordern, bindet aber vor allem jene ein, die bei Waffenlieferungen für die Verteidiger für ein strenges Augenmaß votieren, denn es müsse strikt darauf geachtet werden, nicht selbst zur Kriegspartei zu werden. Schließlich werden auch gewichtige historische Argumente angeführt, so die Tatsache, dass sowohl die angreifende als auch die angegriffene Seite ehemals Teile der Sowjetunion gewesen sind, was nun aus deutscher Sicht wegen des Zweiten Weltkriegs zu besonderer Vorsicht verpflichte und Waffenlieferungen an eine der beiden Kriegsparteien ausschließe. Wenn andere Länder bei der Unterstützung für die Ukraine weiter gehen wollten, so die Argumentation, dann sei es deren Sache, aber sie hätten in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs auch nicht jene verhängnisvolle Rolle gespielt wie eben Deutschland. Im zweiten Fall wird eine Unterstützung der Ukraine ausgelotet, die alle Möglichkeiten ausschöpfen will, die unterhalb einer direkten Kriegsbeteiligung – also mit eigenen Soldaten im Kriegsgeschehen – gegeben scheinen. Werde der Kriegstreiber nicht jetzt mit allen entsprechenden Mitteln gestoppt, lasse sich ein immer größer werdender und vor allem kriegerischer Konflikt nicht mehr aufhalten. Nach der Ukraine würden schließlich weitere Länder an der Reihe sein, denn niemand könne verlässlich sagen, wann der Appetit auf weitere Gebiete, die Russland angeschlossen werden sollen, endlich gestillt sein werde. Würden jetzt Gebiete in einer Tiefe von 200 Kilometern angeschlossen, könnten es in wenigen Jahren weitere Kilometertiefen sein, denn der Angreifer wisse dann zu gut, dass niemand ihn mehr bei der Salamitaktik aufhalten könne. In Vilnius ist das Rathaus jetzt geschmückt mit der in Litauisch, Polnisch, Belorussisch und Ukrainisch wiedergegebenen Losung „Für unsere und eure Freiheit!“. Wie in einem Brennglas sind damit fast 200 Jahre hinund herwogender Geschichte gebündelt, die den Menschen in diesen Ländern jetzt wieder ganz lebendig vor den Augen steht. Es ist schließlich ein Erdenwinkel, in dem oft genug andere von außen teilten und herrschten oder es zumindest immer wieder versucht haben. Dr. Holger Politt leitet das Büro Ostmitteleuropa der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau. Er forscht zum polnischen Werk Rosa Luxemburgs. Lebensrettendes Verbot Ihre Sprengkraft reicht nicht aus, um ein gepanzertes Fahrzeug zu zerstören. Einen Menschen aber schon. Anti-Personen-Minen sind nur dafür gedacht, Menschen zu verstümmeln oder zu töten. Auch dann noch, wenn ein Krieg vorbei ist. Druckminen, Stockminen, Richtminen, Springminen – egal, wie sie heißen, es sind profitträchtige Verstümmelungs- und Tötungswerkzeuge, die keinen Unterschied zwischen Freund und Feind, Frau, Mann, Kind machen. Seit dem Zweiten Weltkrieg gehörten sie zum Alltag der folgenden Kriege und Konflikte. Der Kambodschaner Thun Channareth überlebte 1982 eine Begegnung mit einer Anti-Personen-Mine und verlor beide Beine. Er gründete in seiner Heimat eine Kampagne gegen Landminen und wurde dafür 1997 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. 1992 wurde auf Initiative von Handicap International und medico international die „Internationale Kampagne für das Verbot von Landminen“ ins Leben gerufen, mitgegründet von den Organisationen und Initiativen Human Rights Watch, Vietnam Veterans of America Foundation, Mines Advisory Group und Physicians for Human Rights. Als eine „Initiative von Träumern“ belächelten viele das Anliegen. Wie bitte schön sollten die so lukrativen und über jeden Krieg hinaus wirksamen Waffen aus der Welt geschafft werden? Fünf Jahre nach der Gründung wurde ein Verbotsabkommen über Anti-Personen-Minen erreicht, dafür bekam die Kampagne den Friedensnobelpreis. Denn noch nie zuvor war es gelungen, eine Waffe zu verbieten, die überall auf der Welt eingesetzt wurde. Zumal die Gegner eines solchen Verbots stark und mächtig waren. Die militärischen Großmächte, die Rüstungsindustrie verloren gegen die Zivilbevölkerungen, gegen mittlere und kleine Staaten. 2003 gründeten die Mitglieder der Kampagne eine Koalition für das Verbot von Streumunition, der über 80 zivilgesellschaftliche Organisationen weltweit beitraten und die inzwischen mehr als 350 Mitglieder zählt. Streumunition wurde trotzdem eingesetzt. 2003 im Irak, 2006 im Libanon, 2008 in Georgien. Im Jahr 2010 trat das Verbotsabkommen in Kraft, nachdem 2008 eine deutliche Mehrheit von Staaten ein vollständiges Verbot von Streumunition beschlossen hatte. Millionen und Abermillionen Anti-Personen-Minen wurden seit 1999 zerstört. Es ist erklärtes Ziel der Vertragsstaaten, die Welt bis 2025 minenfrei zu machen. Das ist in drei Jahren. Niemand kann angesichts der Kriege der Gegenwart sagen, ob es wirklich gelingen wird. Was nichts daran ändert, dass man darum kämpfen muss.  kg Juni 2022 maldekstra #1517 Keine „Zeitenwende“ Afrikanische Staaten und ihre Position zu Russland angesichts des Krieges Von Andreas Bohne Zwei Abstimmungen gelten als Gradmesser: Am 2. März 2022 stimmte eine überwältigende Mehrheit in der UN-Vollversammlung für eine Verurteilung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Unter den fünf ablehnenden Stimmen fand sich mit Eritrea ein afrikanisches Land, dessen militärische und politische Beziehungen zu Russland in den letzten Jahren immer enger wurden. Das schien aber wenigen eine Meldung wert zu sein. Viele Kommentator*innen verwiesen vor allem auf die Stimmenthaltungen von 16 afrikanischen Ländern, darunter „Schwergewichte“ wie Algerien, Südafrika, Namibia, Mali, Senegal, Sudan und Tansania. Knapp einen Monat später, Anfang April, wurde durch einen Beschluss die Mitgliedschaft Russlands im UN-Menschenrechtsrat ausgesetzt. Neun afrikanische Staaten stimmten für beziehungsweise gegen den Antrag, während sich mit 24 Ländern eine auffällig hohe Anzahl enthielt. Jedoch ist diese Haltung keineswegs Ausdruck einer vermeintlichen „Zeitenwende“, die inflationär gebrauchte Chiffre der Gegenwart. Ebenso wenig ist es Zeichen einer kontinuierlichen Solidarität unter Genoss*innen, wie einige Journalist*innen mit Verweis auf das Abstimmungsverhältnis der Staaten des Südlichen Afrika zu erkennen vermeinen. Die Positionierung ist das Ergebnis eines komplexen Prozesses, der sich seit Jahren abzeichnet und zuletzt verstärkte – und hier nur angerissen werden kann. Die Stimmenthaltung beziehungsweise Ablehnung Malis scheint recht einfach zu erklären: In den letzten Jahren hat sich hier der russische Einfluss – auch aufgrund des Versagens der westlichen Militärinterventionen – deutlich verstärkt. Die Anfragen nach und die Anwesenheit von Söldnern oder offiziell von „Ausbildern“ der russischen Wagner-Gruppe, deren enge Verbindungen in den Kreml bekannt sind, stehen dafür exemplarisch. Auch haben die Militärexporte von Russland nach Mali in den letzten Jahren zugenommen, wie die langjährigen Daten des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) verdeutlichen. Hier werden geostrategische mit ökonomischen Interessen verbunden. Und welche Rolle letztere spielen, findet derzeit generell wenig Beachtung. So ist Algerien nach Indien und China der drittgrößte Importeur russischer Waffen. Das nordafrikanische Land mit seiner autokratischen Regierung und seinem starkem Militärapparat enthielt sich im März und stimmte im April gegen den Beschluss. In Guinea, derzeit von dem Putschisten Mamady Doumbouya geführt, hat Russland seit Jahren umfangreiche Investitionen im Bauxitsektor getätigt. Ungefähr die Hälfte der Aluminiumerzproduktion des russischen Aluminiumriesen Rusal stammte im vergan- zur Bekämpfung des Terrorismus oder zur genen Jahr aus den Minen in Guinea. Dass sich „Migrationsabwehr“, nicht davor zurück, mit der Sudan in den Abstimmungen enthielt, er- Autokraten gemeinsame Sache zu machen. scheint ebenfalls kaum überraschend. Seit Was vollkommen unter den Tisch zu fallen Jahren verstärken sich die traditionell guten scheint, sind die Ja-Stimmen afrikanischer Beziehungen zu Russland wieder. Der berüch- Länder zu den Resolutionen. Schon bei der tigte Militär und stellvertretende Vorsitzende Abstimmung der Resolution gegen den Eindes sudanesischen Souveränitätsrates, Moham- marsch Russlands im UN-Sicherheitsrat am med Hamdan Daglo, weilte zu Beginn des völ- 26. Februar 2022 haben sich die gegenwärtikerrechtswidrigen Angriffskrieges in Moskau gen nichtständigen afrikanischen Mitglieder und führte Gespräche mit hochrangigen russi- des Sicherheitsrats, Kenia, Ghana und Gabun, schen Regierungsvertretern, darunter Außen- deutlich gegen den Krieg positioniert. Auch minister Sergej Lawrow. Die ideologisch-mili- die Afrikanische Union mit ihrem Vorsitzentaristische Wesensverwandtschaft mit Putin den, dem senegalesischen Präsidenten Macky ist nur schwer von der Hand zu weisen. Sall, und dem Vorsitzenden der AU-KommissiDie aufgeführten Beispiele sind Spiegelbild on, Moussa Faki Mahamat, hat eindeutig Stelder russischen Politik in den vergangenen Jah- lung gegen die Invasion bezogen. Während die ren. Explizit wurden strategische Beziehungen AU hier mit einer einheitlichen Stimme zu zu einzelnen Ländern neu etabliert. Denn im sprechen scheint, hat sich Senegal später in Gegensatz zu China mit seiner omnipräsenten beiden Abstimmungen enthalten. Spätestens wirtschaftlichen Macht muss Russland hier wird sichtbar, dass eine Vereinfasich auf einzelne Länder konzentchung im Sinne von „Wie positioDie rieren. Und hier unterscheidet es niert sich Afrika zum Krieg?“ sich gar nicht mal so sehr von schlicht nicht zu rechtfertiPositionierung den europäischen Staaten, in gen ist. Das zeigt sich nicht ist das Ergebnis deren Selbstverständnis entnur in der unterschiedlichen eines komplexen weder die früheren Kolonien Positionierung einzelner „traditionelle Einflussgebie- Prozesses, der sich seit afrikanischer Länder, die te“ sind (zum Beispiel Franknicht wenige – berechtigJahren abzeichnet reich in Westafrika) oder neue terweise – als Selbstbestimund sich zuletzt mung und -positionierung segeopolitische Konstrukte gebilverstärkte. det werden, wie die „Reformparthen. Die Aussage „Enthaltung nerschaften“ der Bundesregierung heißt nicht Zustimmung zur Agmit einzelnen afrikanischen Ländern. gression“ findet sich entsprechend häufig. Viele afrikanische Regierungen haben sich Und natürlich sind die Meinungen in den nicht ausschließlich wegen einer besonderen Ländern keineswegs homogen, wie das BeiAbhängigkeit von Russland der Stimme ent- spiel Südafrika zeigt. Während Floyd Shivamhalten oder gegen Resolutionen votiert. Ein- bu von den Economic Freedom Fighters eine mischung von außen wird in vielen afrikani- Unterstützung Russlands mit „den verwurschen Hauptstädten – wie weltweit – nicht zelten Banden der Brüderlichkeit“ begrüngern gesehen. So mehren sich gegenwärtig det, hat die südafrikanische Außenministerin die afrikanischen Stimmen, die sich gegen Naledi Pandor den Krieg anfangs scharf verzunehmenden Druck aus Russland, der Uk- urteilt, was Präsident Cyril Ramaphosa widerraine und von europäischen Diplomat*innen rief. Und in der südafrikanischen Zivilgesellaussprechen. Schließlich waren die afrikani- schaft findet sich eine ähnliche Bandbreite: schen Staaten in der Vergangenheit immer von Kritik der NATO-Ausweitung bis hin zu wieder selbst Schauplatz von politischer und einer klaren Verurteilung des Krieges. militärischer Einmischung oder ökonomiWas jedoch zu einer „Zeitenwende“ hätscher Hegemonie europäischer Staaten, die te führen können, wäre von afrikanischen mit Schlagworten wie „Wirtschaftsreformen“ Staaten ein starker Impuls für die Blockfreioder „Strukturanpassung“ kaschiert oder von en-Bewegung im Angesicht des Krieges auspaternalistischer Entwicklungshilfe flankiert gegangen. Offiziell berufen sich Länder wie wurden. Gerade die hohe Anzahl der Ent- Namibia, Südafrika oder Uganda auf die blockhaltungen bei dem Votum zum Menschen- freie Außenpolitik, Akzente als Mediator aus rechtsrat zeugt maßgeblich vom Willen zur dieser Überzeugung heraus konnten sie aber Nichteinmischung und zur nationalen Souve- bisher nicht liefern – sicherlich auch, weil die ränität. Und natürlich spielen die Doppelstan- Welt gerade in eine vereinfachende Dichotodards eine wesentliche Rolle: Viele westliche mie angesichts des Krieges zerfällt. Politiker*innen hielten und halten Sonntagsreden über Demokratie und Rechtsstaatlich- Andreas Bohne leitet das Afrika-Referat der keit, schrecken aber aus Eigeninteresse, etwa Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. 18 maldekstra #15Juni 2022 Mali und niemals Frieden Eine Geschichte von Kapitalismus, Kolonialismus und Versagung von Demokratie Von Kathrin Gerlof Ende Mai lief die bis dahin befristete Beteili- tung des Terrorismus in Nachbarstaaten zu gung der Bundeswehr an der „Multidimensio- verhindern. nalen Integrierten Stabilisierungsmission der Was eher wenig bis gar nicht thematisiert Vereinten Nationen in Mali“ (MINUSMA) aus wird: Die Ursachen für das Elend liegen viel und wurde im Mai durch einen Beschluss des weiter zurück und tief. Sie haben mit KoloniDeutschen Bundestages um ein Jahr verlän- alismus, Neokolonialismus und den düsteren gert. Seiten der Globalisierung zu tun. Von den zwei aktuellen Bundeswehr-EinAminata Dramane Traoré, 1947 geboren, sätzen im Krisenstaat Mali wird laut diesem war von 1997 bis 2000 Ministerin für Kultur Beschluss der eine eingefroren, der andere und Tourismus in Mali, zugleich Koordinatowird jedoch nicht nur weiterlaufen, sonrin des Entwicklungsprogramms der Verdern sogar aufgestockt werden. So einten Nationen. Sie ist eine Globaliwill es die Ampelkoalition. Für sierungskritikerin, vor allem eine die Mission der Vereinten NaKritikerin der WirtschaftspoliMali ist ein tionen, MINUSMA, wird die der entwickelten IndustDrama, das stetig tik Mandatsobergrenze von rieländer. 2005 unterzeich1.100 auf 1.400 Soldaten an- fortgeschrieben wird. nete Traoré das Manifest von gehoben. Die Begründung Der westafrikanische Porto Alegre, das auf dem dafür ist unter anderem, dass Weltsozialforum veröffentStaat kommt dies zum Ausgleich bislang licht wurde. nicht zur Ruhe. von Frankreich übernomme2013 wurde sie in Frankreich ner militärischer Fähigkeiten nöihrer globalisierungskritischen tig sei. Positionen wegen de facto zur PerDann sind zwölf Jahre Krise ins und sona non grata. In einer Stellungnahme durch das Land gegangen. Der westafrikani- schrieb sie im gleichen Jahr, was aus Mali gesche Staat kommt nicht zur Ruhe. Die Ursa- worden ist und warum es so wurde. „Was für chen dafür liegen tief und haben einen lan- ein Mali werden wir den nachfolgenden Gegen Vorlauf. Die westliche Militärpräsenz nerationen überlassen?“, fragte sie. „Ein Mali, jedenfalls hat bislang nicht dazu beigetragen, in dem der Abzug der letzten französischen dass sich die Dinge zum Positiven wenden. Soldaten einer der Höhepunkte seiner EntMilitärputsche, Übergangsregierungen, be- kolonialisierung war und das heute den Rest waffnete und extremistische Gruppen, die seiner Souveränität verliert? (…) Mali leidet sich bekämpfen – Mali ist ein Drama, das ste- nicht wegen der Rebellion und des radikalen tig fortgeschrieben wird. Die Sicherheitsla- Islam unter einer humanitären und Sicherge in der Sahel-Region hat sich trotz interna- heitskrise im Norden und nicht aufgrund des tionalen Einsatzes stetig verschlechtert. Das Staatsstreichs vom 22. März 2012 unter einer schätzt auch die Bundesregierung so ein, sagt politischen und institutionellen Krise im Süallerdings, dass die UN-Mission MINUSMA den. Dieser reduzierte Ansatz ist das Haupttrotzdem zu einer Stabilisierung beigetragen und das wahre Hemmnis für den Frieden und habe und dass es darum gehe, eine Ausbrei- den nationalen Wiederaufbau. Wir haben vor allem dem Zusammenbruch eines angeblich siegreichen malischen Kapitalismus mit sehr hohen sozialen und humanen Kosten beigewohnt. Seit den 80er Jahren sind Strukturanpassungen, Massenarbeitslosigkeit, Armut und extreme Armut unser Los. (…) Der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (Bericht 2001) zufolge ist Afrika der Kontinent, wo Strukturanpassungsmaßnahmen am massivsten, gründlichsten und zerstörerischsten durchgeführt wurden, in den 80er und 90er Jahren, in denen die internationalen Finanzinstitutionen sich um nichts anderes sorgten als um die Korrektur von makroökonomischen Ungleichgewichten und Marktverzerrungen und von den Staaten Armutsstrategiepapiere verlangten. (…) Die kleine Minderheit der Neureichen einmal außen vor gelassen, ist es das malische Volk, das bei der Öffnung der malischen Wirtschaft mit der Brechstange der große Verlierer ist. (…) Es kann doch nicht den Soldaten vorgeworfen werden, wenn sie ein Land nicht verteidigen können, dessen politische und Wirtschaftseliten nicht nur akzeptieren, dass es unter den schlimmsten Bedingungen für den Markt geöffnet wird, sondern sich dabei auch noch bereichern. Das Scheitern ist in erster Linie ihnen zuzuschreiben, weil sie ein Wirtschaftsmodell gefordert haben, das gleichbedeutend ist mit einem Disengagement und einer Spaltung des Staates, einer Verwahrlosung der Truppen und Massenarbeitslosigkeit.“ 2021 erhielt Aminata Traoré den Blue Planet Award, der seit 2006 jährlich von der deutschen „Stiftung Ethik & Ökonomie“ an Menschen verliehen wird, die „sich herausragend für die ethischen Prinzipien im Spannungsfeld Ethik und Ökonomie einsetzen“. Rüstungsindustrie Im Waffengeschäft sind die USA weiterhin Weltmeister. Amerikanische Konzerne besetzen die ersten fünf und dann noch zwei weitere Plätze auf der Weltrangliste der Waffenhersteller, die das norwegische Institut SIPRI 2020 veröffentlichte. Mit einem Jahresumsatz von 58,21 Milliarden US-Dollar war die Lockheed Martin Corporation internationaler Branchenführer. Dieser Betrag, der knapp dem 200-Fachen der ukrainischen Steuereinnahmen im gleichen Jahr entspricht, wurde wohlgemerkt ausschließlich mit Waffen erzielt, die allerdings auch 89 Prozent des Gesamtumsatzes ausmachten. Anders sieht es bei Boeing (Platz 3 im Ranking) aus, wo Tötungsmittel nur 55 Prozent des Umsatzes generierten, deren Umfang aber immer noch 32,13 Milliarden US-Dollar betrug. Ähnlich diversifiziert ist das Geschäftsmodell auch bei den insgesamt vier chinesischen Unternehmen, die es auf die Liste der 15 größten Waffenhersteller geschafft haben. Ihr Jahresumsatz mit Waffen blieb jeweils unter 20 Milliarden US-Dollar und machte bei keinem der Konzerne mehr als 50 Prozent des Gesamtumsatzes aus. Ähnlich liegen die Dinge beim französischen Thales-Konzern, den viele als Bahnunternehmen kennen, der aber 47 Prozent seines Umsatzes mit Waffen machte und damit 9,05 Milliarden US-Dollar einnahm. Airbus wird in der Liste auf Platz 11 als europäisches Unternehmen geführt, das 11,99 Milliarden US-Dollar, 21 Prozent seines Gesamtumsatzes, mit Waffen erzielte. Ansonsten gibt es auf dieser Liste nur noch Italien (Leonardo, Platz 13, 11,16 Milliarden, 73 Prozent des Gesamtumsatzes) und Großbritannien (BAE Systems, 25,02 Milliarden, 97 Prozent des Gesamtumsatzes). Mit anderen Worten: Wenn morgen weltweit der Frieden ausbräche, träfe das, ökonomisch gesehen, 181 der 193 von der UNO anerkannten Staaten überhaupt nicht. Und unter den betroffenen Ländern gibt es nur drei, deren führende Rüstungskonzerne so schnell wirklich nichts anderes zustande brächten. Es sind die US-Waffenschmieden, bei denen das Diversifizierungsproblem am größten ist. sim Juni 2022 maldekstra #1519 Zwischen Polarisierung und Multilateralismus Der Indopazifik: europäische Außen- und Sicherheitspolitik in Süd- und Südostasien Von Philip Degenhardt und Stefan Mentschel Das strategische Interesse der Europäischen Union (EU) an den Ländern Süd- und Südostasiens wächst. Der indopazifische Raum gewinne in wirtschaftlicher, demografischer und politischer Hinsicht immer mehr an Bedeutung, erklärte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im September 2021. Daher biete die EU den Ländern dieser Region eine verstärkte Partnerschaft an, um neben der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auch die regelbasierte internationale Ordnung zu stärken. Dem zugrunde liegt eine neue EUStrategie für das Agieren im Indopazifik. In dem Papier werden mehrere Bereiche genannt, in denen sich die EU besonders engagieren will. Neben nachhaltiger Entwicklung, ökologischem Wandel, Meerespolitik, Digitalisierung und Konnektivität sind das vor allem Sicherheit und Verteidigung. Vor diesem Hintergrund betont die EU, dass im indopazifischen Raum ein geopolitischer Wettbewerb in Gang gesetzt worden sei, der auch die Spannungen im sicherheitspolitischen Bereich weiter verschärfe. Zwar wird betont, dass der Ansatz der EU für die Region auf Kooperation und nicht auf Konfrontation ausgerichtet sei. Dennoch liegt der Fokus der EU darauf, im Indopazifik ein strategisches Gegengewicht zur Volksrepublik China zu schaffen. Die Spannungen zwischen den USA und dem immer selbstbewusster agierenden China sind in der Region seit langem spürbar. Noch bevor die EU verstanden hatte, dass sich die weltweiten Machtzentren im 21. Jahrhundert nach Asien verschieben, waren die USA bereits dabei, China militärisch einzudämmen. Aktuell arbeiten die USA daran, weitere Militärbündnisse und Kooperationen im Indopazifik zu schmieden. Die EU jedoch hängt im Rennen um Einfluss und geopolitische Partner hinterher. Einer davon ist Indien. Zum einen gilt das südasiatische Land als eine der wenigen „echten“ Demokratien in der Region. Zum anderen vertritt es die Werte einer multilateralen und regelbasierten internationalen Ordnung. Mit anderen Worten: Indien stellt für die EU wegen seines demokratischen politischen Systems und seiner Größe ein strategisches und wirtschaftliches Gegengewicht zu China dar. Ein Grundstein der Zusammenarbeit wurde bereits 1994 mit dem Abschluss eines Kooperationsabkommens über Partnerschaft und Entwicklung gelegt. Von einer geostrategischen Allianz auf Augenhöhe war zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede. Das änderte sich 2004, als die EU-Kommission mit der Erklärung von Lissabon den Aufbau einer strategi- schen Partnerschaft mit Indien proklamierte. Der Schwerpunkt der Beziehungen verlagerte sich vom Handel auf politische Fragen wie Multilateralismus, Konfliktprävention und die Bekämpfung des Terrorismus. Parallel dazu setzte die EU ihre Bemühungen fort, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Indien auf eine neue Grundlage zu stellen. Ab 2007 wurde über ein Freihandelsabkommen verhandelt, das jedoch seit 2013 auf Eis liegt. Auf indischer Seite gab es Widerstand gegen eine zu starke Öffnung des Marktes für billige Importe aus Industrie und Landwirtschaft. Brüssel kritisierte Indien für seine Unterstützung des eigenen Agrarsektors, vor allem die staatlich garantierten Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Reis und Weizen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ausbaufähig sind auch die politischen Beziehungen. 2018 wurde die Erklärung von Lissabon aktualisiert. Als aufstrebende Weltmacht spiele Indien eine entscheidende Rolle in der multipolaren Welt, ließ die EU verlauten. Im Jahr 2020 bekräftigten die EU und Indien, dass sie die strategische Partnerschaft in den kommenden Jahren weiter ausbauen wollen. Zu den wichtigsten Punkten dieses auf fünf Jahre angelegten Fahrplans zählt die Stärkung der Mechanismen für den Dialog über außen- und sicherheitspolitische Fragen. Ein Aspekt stellt die Beziehungen zu Indien jedoch auf die Probe. Nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich Neu-Delhi nicht den Sanktionen des Westens gegen Moskau angeschlossen. Im Gegenteil: Indien vermeidet bis heute eine Positionierung, denn es möchte sich keinesfalls in eine geostrategische Allianz mit dem Westen zwingen lassen, sondern als eigenständiger Akteur in der Region und in einer multipolaren Weltordnung etablieren. Das heißt, Indien agiert wie die EU: auf außenpolitischem Terrain pragmatisch und je nach Bedarf seine Bündnispartner auswählend. Die strategischen Bemühungen der EU in Südostasien sind wie bei Indien vom Umgang mit China und von der sich zuspitzenden Lage im Südchinesischen Meer – oder Ostmeer, wie es in Vietnam heißt – geprägt. Ihren Anfang nahmen die Beziehungen mit Kontakten auf Ministerialebene im Jahr 1972. Seitdem hat sich das Verhältnis zwischen der EU und den ASEAN-Staaten stetig entwickelt. Seit 2020 unterhalten die EU und ASEAN eine strategische Partnerschaft mit regelmäßigen Treffen auf höchster Ebene. Kooperiert wird in der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik und bei Konnektivität und Entwicklung. Aufgrund seiner Lage im Indopazifik ist ASEAN ein wichtiger Partner der EU beim Erreichen seiner wirtschaftlichen und strategischen Ziele in der Region. Ein Abkommen mit dem gesamten ASEANVerbund bleibt langfristiges Ziel der EU, um die strategische Partnerschaft zu untermauern und die politische und ökonomische Kooperation voranzutreiben. Die wachsende Kooperationsbereitschaft der EU im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur zeigt sich an der aktiven Beteiligung Brüssels am ASEAN Defence Ministers’ Meeting Plus (ADMM-Plus) und am East Asia Summit. Klar ist, dass die EU die große Chance hat, sich innerhalb des ASEAN-Verbundes als verlässlicher Partner für Frieden und eine multilaterale Weltordnung zu positionieren. Die meisten Länder wollen nicht in einen neuen Kalten Krieg im Indopazifik hineingezogen werden. Sie wollen nicht die Entscheidung treffen müssen: China oder die USA. Darauf sollte eine wertebasierte, friedensstiftende und sozialökologisch orientierte europäische Außen- und Wirtschaftspolitik hinarbeiten. Das Ringen um die strategische Vormachtstellung im Süden und Südosten Asiens wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen. China wird immer selbstbewusster, gleichzeitig schwächt sich der US-amerikanische Einfluss ab. Dessen ungeachtet führt der Konflikt der beiden Großmächte zu einer immer stärkeren Polarisierung, wodurch der Druck auf die Staaten im Indopazifik wächst, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Das jedoch führt in diesen Ländern zu einseitigen politischen und ökonomischen Abhängigkeiten, was die Risiken für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung und die Stabilität der politischen Systeme in der Region erhöht. Die Europäische Union könnte diese Polarisierung durch eine kluge Außenpolitik aufweichen und durch Partnerschaften im Indopazifik den Multilateralismus stärken. Doch dafür bedarf es einer klaren Strategie für die gesamte Region, die von grundlegenden Werten wie der Bewahrung des Friedens geleitet wird. Philip Degenhardt ist seit 2019 Regionalbüroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Südostasien und der Mekong-Region mit Sitz in Hanoi. Stefan Mentschel ist stellvertretender Leiter des Auslandsbereichs der Rosa-LuxemburgStiftung in Berlin. 20 maldekstra #15Juni 2022 „Menschen ohne Erinnerungen sind Menschen ohne Geschichte“ Krieg überschreibt eine Geschichte, deshalb muss er vernünftig und allumfassend aufgearbeitet werden. Protokoll eines Gesprächs mit Sana Yazigi Fo Sana Yazigi ist die Gründerin von Creative Memory, einem Projektpartner des Beiruter Büros, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, alle kreativen Zeugnisse Pa sc al der Revolution in SyriBro nnier en zu dokumentieren. Hier spricht sie darüber, warum gerade das Festhalten von Erinnerungen für die Zukunft eines Landes wichtig ist und warum Amnestien, wie es sie etwa nach dem Bürgerkrieg im Libanon gegeben hat, einer Gesellschaft nicht helfen, Krieg und Gewalt zu überwinden: to : Als die Revolution in Syrien begann, habe ich ein kulturelles Tagebuch geführt, in dem ich die Ereignisse in Damaskus und anderen Städten festgehalten habe. Ich hatte schon damals das ganz starke Gefühl, irgendwann wird das alles verschwinden. Man wird versuchen, all diese Erinnerungen auszulöschen. Mir war bewusst, dass dieses Tagebuch eines Tages ein Zeugnis sein kann, ein wichtiges Dokument der Zeitgeschichte. Im Juni 2012 bin ich mit meiner Familie von Damaskus nach Beirut gegangen, und uns ist klar geworden, dass wir nicht werden zurückkehren können. Kurz darauf habe ich erfahren, dass ein Freund von mir zu Tode gefoltert wurde. Das war ein Wendepunkt für mich. Mir ging es schrecklich, ich war depressiv, und ich wusste, ich muss etwas unternehmen. Ich wollte für mein Volk und die Revolution nützlich sein. Ich habe angefangen, im Internet nach syrischen Initiativen zu gucken, die etwas Ähnliches machen wie ich zuvor mit dem Tagebuch, doch ich habe keine gefunden. Also habe ich ein Team aufgebaut und im Mai 2018 die Seite „Creative Memory“ gelauncht. Wir haben mit 100 Dokumenten an Material angefangen, mittlerweile haben wir über 40.000, aufgeteilt in 22 Kategorien. Von jeder kreativen Aktion, jedem künstlerischen Zeugnis gibt es drei Dokumente, je auf Englisch, Arabisch und Französisch. Jede kreative Aktion ist politisch, und jede politische Aktion ist eine Bedrohung für ein Regime, das uns von Anfang an als Terrorist*innen und Verräter*innen gebrandmarkt hat. Während der unterschiedlichen Phasen in den vergangenen Jahren seit Ausbruch der Revolution haben wir immer wieder diskutiert, was wir dokumentieren wollen. Aber wir haben entschieden, nichts zu verleugnen und nichts zu verstecken. Kreativität hatte in all dieser Zeit immer Bestand, sie ist nie verschwunden. Die Giftgasattacke vom AssadRegime war ein Wendepunkt, da wurde es sehr still, aber ganz aufgehört hat es nie. Seit einigen Jahren kommt die Kreativität wieder stärker zurück, die Menschen im Exil, in Deutschland und Frankreich und all den anderen Ländern haben angefangen, sich wieder mehr auszudrücken. Von Zeit zu Zeit finden sich auch in verschiedenen Städten Syriens wieder regimekritische Graffiti, und im Libanon gibt es ohnehin sehr viele kraftvolle Aktionen von Syrer*innen und ihrem aktivistischen Umfeld. Ich habe viele Jahre im Libanon gelebt, und ich habe es geliebt. Es war ein gutes Leben, und doch konnte ich immer spüren, welche Probleme unter der Oberfläche liegen und warum das libanesische Beispiel deshalb für Syrien keine Lösung sein darf. Assad hat sich zum Sieger des Krieges erklärt, aber keine Übersetzung dieses Sieges mitgeliefert. Wie steht es um den Wiederaufbau, um das alltägliche Leben, wie steht es um Probleme wie die Energieversorgung und all diese Dinge? Was bedeutet es tatsächlich, dass er gewonnen hat? Das hat er noch mit keinem Wort erklärt. Für uns, die die Revolution begonnen haben, ist klar: Wir fragen nicht nach Amnestien. Wir wollen keine Amnestien. Der Libanon ist ein deutlicher Beweis dafür, dass Amnestien nichts für eine Gesellschaft tun können. Sie bergen immer die Gefahr, dass alles wieder von vorn anfängt. Ja, man kann vergleichsweise gut und ruhig im Libanon leben. Vor allem früher, vor der Krise. Aber auch damals war es schon so, dass man, sobald man die oberen Schichten abgestreift hat, gesehen hat, was darunter gärt und dass das keine dauerhafte Lösung sein kann. Jedes Mal, wenn die Libanes*innen nach Wandel gefragt haben, wurde ihnen vermittelt, dass sie quasi permanent an der Schwelle zu einem erneuten Krieg stehen. Und dass sie deshalb lieber schön leise bleiben sollen. Das hat sie wieder abgeschreckt, denn sie haben gespürt, da ist etwas dran. Der 15 Jahre dauernde Bürgerkrieg wurde nie aufgearbeitet, und die Gründe, warum er ausgebrochen ist, existieren noch immer. Es ist also ein versteckter Krieg, weil die gleichen Leute, die ihn geführt haben, noch immer an der Macht sind. Was eben aufgrund von Amnestien möglich war. Und diese Leute haben gar kein Interes- se daran, die ursprünglichen Probleme anzugehen, weil das ja ihre eigene Macht bedrohen würde. Dieses vermeintlich ruhige Leben ist ohnehin nur in bestimmten Blasen möglich. Wenn man ausländisches Geld verdient, sich in Kreisen aufhält, in denen man von dem Leid der anderen nicht allzu viel mitbekommt, kann man das Gefühl gewinnen, dass alles zumindest einigermaßen in Ordnung ist. Das war vor der Revolution in Syrien genauso. Die Revolution und der Krieg haben dann offengelegt, welche Ungerechtigkeiten immer schon da waren. Krieg überschreibt eine Geschichte, und deshalb muss er vernünftig und allumfassend aufgearbeitet werden. Bevor der Bürgerkrieg im Libanon ausgebrochen ist, gab es auch dort den Beginn einer Revolution, es gab die Forderungen nach mehr sozialen und bürgerlichen Rechten. Darüber spricht heute niemand mehr, weil der Bürgerkrieg alles überschattet hat. Mit unserer Arbeit versuchen wir zu helfen, später Geschichte zu schreiben. Die Syrer*innen haben so viel zutage gefördert, was nie wieder zu löschen sein wird. Das hat es so in unserer modernen Geschichte nirgendwo gegeben. Sie haben dazu beigetragen, ein gemeinsames Bewusstsein zu schaffen für das, was in all diesen schrecklichen Jahren in ihrem Land passiert ist. Jede*r Syrer*in, der*die heute etwas tut, wo auch immer er*sie ist, ist sich dessen bewusst, dass dies der Zukunft helfen wird. Wir im Exil sind längst keine Zuschauer*innen mehr, wir sind Akteure. Wir haben dafür gesorgt, dass es kein unilaterales Narrativ gibt, nicht nur das, was Assad verbreitet. Wir sind schon vor langem wieder laut geworden, wir drücken uns wieder aus und verbreiten unsere Narrative. Für mich haben wir diese Revolution deshalb weder gewonnen noch verloren. Die Gerichtsverfahren, die jetzt in Deutschland gegen Vertreter des Assad-Regimes stattfinden, erlauben es uns auch, uns mit der Frage der Verschleppten und Verschwundenen zu beschäftigen. Sie gestatten es uns, in einem sicheren Umfeld, in dem die Menschenrechte gewahrt werden und die Justiz unabhängig ist, den Mund aufzumachen. Und endlich wieder nach denen zu rufen, die uns genommen wurden. Das Protokoll zum Gespräch mit Sana Yazigi schrieb Hanna Voß, Projektmanagerin im Beiruter Büro der RLS. Juni 2022 maldekstra #1521 Bertha Sophia Felicita Freifrau von Suttner Sie war die Erste. Allein dafür hat sie einen Platz in unseren Herzen verdient. Bertha von Suttner wurde 1905 der Friedensnobelpreis verliehen. Monatelang war sie durch Europa und die Vereinigten Staaten gereist, um für Abrüstung und die Einrichtung internationaler Schiedsgerichte zu kämpfen. Auf diese Weise hoffte die 1843 in Prag geborene Gräfin Kinsky von Wchinitz und Tettau, kriegerische Auseinandersetzungen verhindern zu können. Sie wusste, dass es für eine friedliche Welt notwendig war, Frauen Sitz und Stimme im „Rat der Völker“ zu geben. Man warf ihr vor, „unweiblich“ zu sein, spottete über die Unermüdliche, aber aufgegeben hat sie nicht, die „Friedens-Bertha“, wie sie Deutschnationale abfällig titulierten. Sie schrieb und organisierte Friedensaufrufe, ließ Flugblätter und Schriften drucken, gründete die „Österreichische Gesellschaft der Friedensfreunde“ und 1892 die „Deutsche Friedensgesellschaft“. Sieben Jahre später bereitete sie die Haager Friedenskonferenz mit vor. Mit 46 Jahren veröffentlichte sie den pazifistischen Roman „Die Waffen nieder!“. Einen friedlicheren Schlachtruf gibt es nicht. Das Buch erregte Aufsehen, Bertha von Suttner schilderte darin die Schrecken des Krieges aus der Perspektive einer Ehefrau. 37 Auflagen wurden gedruckt, das Buch erschien in zwölf Sprachen. Für Bertha von Suttner war Frieden ein naturrechtlich verbürgter Normalzustand – wie weit sind wir in der Gegenwart von dieser Idee entfernt? Bis zu ihrem Ende glaubte die Pazifistin an die stetige Höherentwicklung der Menschheit. Sie starb 1914. Wenige Wochen später begann der Erste Weltkrieg. Vor dem hatte sie gewarnt, und der stellte unter Beweis, dass es mit der Höherentwicklung der Menschen nicht weit her war.  kg 22 maldekstra #15Juni 2022 Wettrüsten bei Kleinwaffen In Israel kämpft eine feministische Initiative für strengere Kontrollen und Reduzierung. Gespräch mit Rela Mazali Fo t o : w ww .m id ea d le ste ye.n et Die Initiative „Gun Free Kitchen Tables“ (GFKT), übersetzt etwa „Keine Waffen auf dem Küchentisch“, setzt sich für strengere Kontrollen und die Reduzierung von Kleinwaffen in Israel und den von Israel kontrollierten palästinensischen Gebieten ein. Als Zusammenschluss von 20 feministischen, zivilgesellschaftlichen und Menschenrechtsorganisationen hat GFKT ein breites Spektrum an Aktivitäten. Dazu gehören unabhängige Nachforschungen und Kontrollen, Gesetzesinitiativen und politische Lobbyarbeit, aber auch juristische Eingaben und Zivilklagen, um Täter zur Verantwortung zu ziehen. Eine der Mitbegründerinnen und Koordinatorin der Initiative ist die feministische Wissenschaftlerin, Autorin und Menschenrechtsaktivistin Rela Mazali. Mit ihr sprach Juliane Drückler vom Zentrum für internationalen Dialog und Zusammenarbeit der RLS. Kleinwaffen sind in Israel ein besonderes Problem. Anteil nicht registrierter Schusswaffen, lag der Warum gibt es im öffentlichen Raum so viele davon? Anstieg im gleichen Zeitraum bei 70 Prozent. Fest In Teilen ist es die direkte Folge der hohen Prästeht: Ein Drittel aller in den vergangenen Jahren senz bewaffneter Soldat*innen an zivilen Orten. erschossenen Frauen wurde mit registrierten Außerdem gab es seit dem Jahr 2000 PrivatisieWaffen getötet. rungen von Polizeiaufgaben: Private Sicherheitsdienste postieren überall und nirgends bewaffEure Organisation hat sich ausdrücklich der feministinete Kräfte. (Das sind, ganz im neoliberalen Geist, schen Analyse von Militarisierung in Bezug auf häufig durch schlechte Verträge ausgebeutete, menschliche Sicherheit verpflichtet. Was bedeutet das? marginalisierte Arbeiter*innen.) RegierungsgeFeministische Analyse bezieht sich nicht nur auf bäude, Gerichte, das Justizministerium sind den Geschlechterverhältnisse, sondern nimmt alle alle mit bewaffneten Wachposten ausgestattet. bestehenden Machtstrukturen in den Blick. Dazu Dazu kommen verschiedene zivile Einrichgehört, dass marginalisierte Gruppen am meisten tungen, wo, wie im Coca-Cola-Konzern, zur angebvon Waffenkriminalität und unkontrolliertem lichen Selbstverteidigung Waffenbesitz erlaubt Waffengebrauch der Polizei betroffen sind. Am ist. Jüdische Siedler*innen, die in sogenannten Gestärksten natürlich Palästinenser*innen, 51 fahrenzonen leben, bekommen automatisch einen wurden von 2000 bis 2015 durch Polizeischüsse zivilen Waffenschein. Häufig dienen ihre Siedlungetötet. Stark gefährdet sind außerdem Menschen gen außerdem als Militärstützpunkte und sind mit psychischen Erkrankungen, erst recht, wenn entsprechend ausgerüstet. sie einer weiteren marginalisierten Gruppe Zusätzlich gibt es eine große Zahl unregistrierter angehören. In den vergangen drei bis vier Jahren Waffen, einen Großteil davon in den palästinensiwurden fünf oder sechs Patient*innen mit psyschen Communitys in Israel, insbesondere in den chischen Erkrankungen von Polizeikräften getötet. Händen von Gruppen organisierter Kriminalität. Solche Erfahrungen, die gewöhnlich als irrelevant Das liegt daran, dass Palästinenser*innen in Israel abgewertet oder unterschlagen werden, versucht keinen Waffenschein bekommen, es sei denn, sie eine feministische Analyse zu berücksichtigen. haben in der Armee gedient oder für einen SicherAuf unserer Website gibt es beispielsweise die Mögheitsdienst gearbeitet. Außerdem gab es in den lichkeit, anonym über Erfahrungen mit Kleinpalästinensischen Gebieten lange Zeit zu wenig waffen zu berichten. Auf diese Weise generieren Strafverfolgung und Rechtsdurchsetzung für wir Wissen aus praktischen Erfahrungen, anstatt geltendes Recht, was es bestimmten Gruppen uns nur auf Statistiken, Umfragen und Datenermöglichte, sich als starke Männer aufzuspieanalysen zu verlassen. len. Das wiederum kam einer kolonialen Regierung entgegen, die in diesen Gebieten Macht und Nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen im Einfluss behalten wollte. Statt sich direkt Mai 2021 in Israel und Palästina gab es, wie einzumischen, nutzten sie Mittelsmänzuvor schon nach dem Gaza-Krieg, ner, die Nachbar*innen bespitzelten Ein Drittel aller deutlich mehr Anträge auf Waffenund angebliche Unruhestifter*inscheine. in den vergangenen Das bedeutet, dass sich die Entnen denunzierten. Als GegenleisJahren erschossenen wicklungen der vergangenen Jahre tung nahm es die Regierung mit der Durchsetzung der WaffengeFrauen wurden mit noch verstärken werden. Kürzlich setze nicht so genau. gab es einen Vorfall, bei dem eine registrierten Waffen psychisch kranke Person mit einer getötet. Unterscheiden sich unregistrierte und Spielzeugpistole versucht hat, einem registrierte Waffen hinsichtlich ihrer Soldaten das Gewehr abzunehmen. Auswirkungen? Diese Person wurde erschossen – von eiDie Unterschiede sind allenfalls graduell. Rund nem Soldaten, der gar nicht im Dienst war, 200 Gewehre und Pistolen werden jährlich aus zivi- sondern nur zufällig anwesend. Berichten zufolge lem Besitz gestohlen, dabei verändert sich deren haben noch andere anwesende Zivilisten in dieser Registrierungsstatus. Außerdem beobachten wir in Situation geschossen. Ich bin sicher, dass wir uns als beiden Gesellschaften, der jüdischen wie der Gesellschaft an einem Punkt befinden, an dem palästinensischen, einen dramatischen Anstieg von sich weitere derartige Eskalationen noch eindämSchießereien, die mit Verletzungen und Todesfällen men ließen. Aber die Leute, die das Sagen haben, enden. Die Zahl stieg zwischen 2017 und 2020 um weigern sich. Anders als über Anschläge, für die es 50 Prozent in der jüdischen Gesellschaft, wo es immer große mediale Aufmerksamkeit gibt, wird angeblich weniger unregistrierte Waffen gibt. In der über derartige Schießereien manchmal überhaupt palästinensischen Gesellschaft, mit einem höheren nicht berichtet. Juni 2022 Medienberichte über Anschläge und das beherzte Eingreifen bewaffneter Zivilisten sind immer Heldengeschichten. Welches Narrativ könnt Ihr dem entgegenhalten? Held*innen-Geschichten sind zentraler Bestandteil jeder militarisierten Gesellschaft, und ganz besonders der unsrigen. Dem etwas entgegenzusetzen ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Vor einigen Tagen habe ich im Radio über diese Erschießung einer psychisch kranken Person gesprochen, und der Interviewer entgegnete: „Was erwarten Sie, schließlich hat er versucht, einem Soldaten die Waffe zu entwenden.“ Meine Antwort lautete: „Wäre die eingreifende Person für Polizeiarbeit im zivilen Raum qualifiziert gewesen, hätte das Opfer nicht sterben müssen. Man hätte ihn verhaften sollen.“ Gerade hat der Oberste Gerichtshof die Klage einer palästinensischen Familie abgewehrt, deren Sohn erschossen wurde, nachdem er ein Auto gestohlen hatte. Immerhin heißt es selbst in diesem Urteil, dass die geltenden Gesetze zum Schusswaffengebrauch in der Öffentlichkeit nicht ausreichen, um derartige Vorfälle zu verhindern. Diese Militarisierung ist in Gaza und dem Westjordanland schon lange die Regel. Dort erschießen israelische Soldat*innen Palästinenser*innen aus beliebigem Anlass und kommen vollkommen ungestraft davon, indem sie behaupten, ihr eigenes Leben sei in Gefahr gewesen. Diese Kultur der Straflosigkeit greift jetzt auch innerhalb Israels um sich. Nicht nur wir, sondern auch einige Persönlichkeiten und Amtsinhaber*innen versuchen dem etwas entgegenzusetzen, aber damit macht man sich unbeliebt. maldekstra #15 23 Ich bin sicher, dass wir uns als Gesellschaft an einem Punkt befinden, wo sich weitere derartige Eskalationen noch eindämmen ließen. Was sind eure konkreten Forderungen, um das Wettrüsten bei Kleinwaffen jetzt zumindest zu verlangsamen? Verschärft die Kriterien für einen Waffenschein. Sammelt und verwahrt die Gewehre und Pistolen von Sicherheitsdiensten nach Dienstende, und entwaffnet möglichst viele ganz. Erlasst Verordnungen, die es Zivilisten mit registrierten Waffen untersagen, nach Gutdünken das Feuer zu eröffnen. Ändert die Gesetze so, dass für einen Waffenschein beispielsweise die Zustimmung des Lebenspartners, der Familie oder der Nachbar*innen nötig wäre. Außerdem müssen die bereits bestehenden Vorschriften, von denen einige gar nicht so schlecht sind, viel konsequenter angewendet und durchgesetzt werden. Wie sieht deine feministische Utopie einer Gesellschaft ohne Kleinwaffen aus? Sehr viel friedlicher: Wenn eine Gruppe von Gesetzeshüter*innen jemanden einkreist, um ihn an etwas zu hindern, ist das zu einem gewissen Grad zwar bedrohlich, aber eben nicht lebensbedrohlich. Es wäre eine inklusive, gleichberechtigte Gesellschaft, die sicher ist für Frauen, People of Colour und palästinensische Bürger*innen. Ressourcen würden so geteilt, dass es weniger Verzweiflung gäbe und Menschen in Würde leben könnten, ohne gewalttätig zu werden. Wut und Ärger wird es zwischen Menschen immer geben, aber sie müssen nicht zwangsläufig zu Gewalt führen. Die Kriege davor Einer von vielen bewaffneten Konflikten in den sogenannten Jugoslawienkriegen war der Kosovo-Krieg. Er endete vermeintlich am 9. Juni 1999 mit einer Einigung der Militärs – die NATO unter Führung US-amerikanischer Streitkräfte auf der einen, Befreiungsarmee des Kosovo, Armee Jugoslawiens, serbische Ordnungskräfte auf der anderen Seite. Slowenien hatte im Juni 1991 seine Unabhängigkeit erklärt. So fing es offiziell an, begonnen hat es schon viel früher. Kroatien folgte, da lag es schon im Krieg mit Serbien. Im März 1992 stimmten die Bosnier für Unabhängigkeit. Und so weiter und so fort. Vertreibung, ethnische Säuberungen, Krieg und Krieg – es ließe sich viel daraus lernen. Vor allem auch, dass Kriege nicht einfach wieder aufhören, über das Ende hat niemand Befehlsgewalt. Und es gibt sehr berührende, kluge, schöne Bücher über diesen Krieg in Europa, den wir nicht vergessen haben, auch wenn dazu gesagt werden muss: Damals ging „uns“ weder Öl noch Gas aus. Da wird das Gedächtnis vielleicht auch kürzer. László Végels Buch „Exterritorium. Szenen vom Ende des Jahrtausends“ (2007): Der Autor, Jahrgang 1941, gehört zur ungarischen Minderheit in Serbien und lebt in Novi Sad. „Ein Sieg befreit von der Verantwortung, der Sieger war einsam, kämpfte allein gegen die Welt. Sein Los war der ständige Bereitschaftszustand, die permanente Vor- bereitung auf das Morgen, denn der Feind musste auch morgen besiegt werden. Nur ein Sieger konnte erneut siegen.“ Viel wird auch in diesen Tagen von Sieg geredet. Végel liest sich im Jetzt, als schriebe er gerade heute. „Die Mythologie befahl den Bürgern, einen Sieg zu feiern, an dem sie bei nüchternem Verstand eigentlich zweifelten. (…) Der dritte Weltkrieg war aufgeschoben worden, aber die neue Weltordnung sollte es (das Volk, die Red.) sich gut einprägen: nicht für immer. Die Luftabwehrraketen ließen den Himmel erstrahlen, die NATO-Soldaten bezogen im Kosovo ihre Stellungen, um unter den dortigen Völkern Ordnung zu schaffen, die Bürger Serbiens feierten den Sieg, die Albaner sannen auf Rache. Die moralische Vergangenheit brach in ihnen auf und begann das moralische Kapital des Leidens aufzubrauchen.“ Bücher lesen sich manchmal wie Blaupausen für die Gegenwart. Auch wenn sie vermeintlich abgeschlossene Vergangenheit beschreiben. Wiederzuentdecken oder überhaupt zu entdecken sind unter anderen: von László Végel „Exterritorium. Szenen vom Ende des Jahrtausends“ (Matthes & Seitz 2007), von Miljenko Jergović „Karivani. Ein Familienmosaik“ (Folio Verlag Wien 1997) und von Dževad Karahasan „Ein Haus für die Müden“ (Suhrkamp Verlag 2019) und „Der nächtliche Rat“ (Insel Verlag 2006). kg

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