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Maldekstra (Rights reserved) Issue2021,13 (Rights reserved)

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Periodical

Title:
Maldekstra : globale Perspektiven von links : das Auslandsjournal / herausgegeben von der common Verlagsgenossenschaft e.G. in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Publisher:
Common Verlagsgenossenschaft e.G.
Rosa-Luxemburg-Stiftung
Publication:
Berlin: Common Verlagsgenossenschaft e.G., 2018 -
Scope:
Online-Ressource
Dates of Publication:
1 (Oktober 2018)-
ZDB-ID:
2987004-5 ZDB
Urban Studies:
Kws 740 Kommunalverwaltung. Kommunalpolitik: Kommunalpolitik
DDC Group:
320 Politik
Copyright:
Rights reserved
Accessibility:
Free Access
Collection:
Public administration,politics

Volume

Publication:
2021
Language:
German
Urban Studies:
Kws 740 Kommunalverwaltung. Kommunalpolitik: Kommunalpolitik
DDC Group:
320 Politik
URN:
urn:nbn:de:kobv:109-1-15469772
Location:
Zentral- und Landesbibliothek Berlin
Copyright:
Rights reserved
Accessibility:
Free Access
Collection:
Public administration,politics

Contents

Table of contents

  • Maldekstra (Rights reserved)
  • Issue2023,18 (Rights reserved)
  • Issue2022,17 (Rights reserved)
  • Issue2022,16 (Rights reserved)
  • Issue2022,15 (Rights reserved)
  • Issue2022,14 (Rights reserved)
  • Issue2021,13 (Rights reserved)
  • Issue2021,12 (Rights reserved)
  • Issue2021,11 (Rights reserved)
  • Issue2021,10 (Rights reserved)
  • Issue2020,9 (Rights reserved)
  • Issue2020,8 (Rights reserved)
  • Issue2020,7 (Rights reserved)
  • Issue2019,6 (Rights reserved)
  • Issue2019,5 (Rights reserved)
  • Issue2019,4 (Rights reserved)
  • Issue2019,3 (Rights reserved)
  • Issue2.2019 (Rights reserved)
  • Issue2018,1 (Rights reserved)

Full text

maldekstra #13 Globale Perspektiven von links: das Auslandsjournal dezember 2021 Kunst und Widerstand Protest, Verweigerung, Subversion, Kritik – Kunst kann es gelingen, als vereinigende und aufrüttelnde Kraft zu ermutigen und das Bestehende infrage zu stellen. Sie hat die Möglichkeit, radikal und emanzipatorisch zu sein, kraftvoll und erhellend Ihr Mobilisierungspotenzial steht außer Frage. Das macht sie für jene wichtig, die gesellschaftliche Verhältnisse verändern wollen – hin zu einer besseren Welt. Nicht jede Kunst ist politisch, und nicht jede politische Kunst macht sich mit einer guten Sache gemein. Denn alle bisherigen Herrschaftsordnungen wussten um das Attraktive, Symbolhafte und Verstärkende, das Kunst verkörpern kann. Sich ihrer Kraft und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten zu bedienen, ist kein Privileg linker, fortschrittlicher Kräfte. Umso mehr deren Aufgabe. Denn Kunst ist geschmeidigen Angeboten zur Kollaboration mit Herrschenden genauso ausgesetzt wie Versuchen, sie zu unterdrücken, zu verbieten, zu zensieren, wenn sie der Herrschaft gefährlich wird. Die Fähigkeit der Kunst, Menschen die Augen zu öffnen und zu sehen, zu verstehen und zu handeln, zieht sich durch die Geschichte. Auch dem Kapitalismus ist es nicht gelungen, der Kunst, den Künstlerinnen und Künstlern das Widerständige auszutreiben. Er muss sie fürchten. Und wir brauchen sie. 2 Inhalt 4 Ungehorsamkeit und Widerstand Wie lassen sich Bilder finden und Gegenstrategien entwickeln, deren künstlerische Kraft andere ermutigt? 8 Nicht an Unterdrückung und Zensur gewöhnen Seit sich die politische Agenda permanent verändert, erscheinen in der Türkei Interventionen im Namen der Kunst häufig zweitrangig 9 Engagiertes Publikum Die ungewöhnlichen Methoden von „Cinema of Resistance“ in Indien 11 Rekordverdächtige Politikmüdigkeit An der israelischen HipHop-Kultur lässt sich erzählen, dass Kunst aufrütteln, aber auch verstummen kann 13 Eine Sprache für alle Künstlerinnen und Künstler weltweit verstehen die Kraft, die in der Weltsprache Esperanto liegt 14 Sansibar Warum sich Liebe und Revolution nicht trennen lassen 16 In den Schuhen der Unterdrückten Wie das ASHTAR Theatre seit 30 Jahren Theater für Freiheit macht 17 „Wir sind alle Intendant*innen“ Der neue Volksbühnenintendant René Pollesch setzt auf Beteiligung und politischen Dialog 18 Ganz große Oper Warum existenzielle Bedrohung dramatische Protestformen braucht 19 Teil des politischen Kampfes In der Hauptstadt Senegals thematisiert eine Theatergruppe gemeinsam mit dem Publikum soziale Unterdrückung 22 Playlist Kunst und Widerstand Der Maldekstra-Mix – 25 Tracks zur Dekolonialisierung des Planeten 23 Kampf um faire Vergütung Kongress der Kunst- und Kulturarbeiter*innen in Zagreb Impressum maldekstra w ­ ird herausgegeben von der common Verlagsgenossenschaft eG, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, in Kooperation mit der Beirat Hana Pfennig, Boris Kanzleiter Redaktion Kathrin Gerlof (V.i.S.d.P.) Anne Schindler, Sigrun Matthiesen Julia Funcke (Korrektorat), Mitarbeit: Börries Nehe und Aurel Hoffmann Illustrationen www.zersetzer.com Gestaltung Michael Pickardt Kontakt Tel. 030.2978.4678 kontakt@common.berlin Druck BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH, Am Wasserwerk 11, 10365 Berlin Druckauflage 54.500 „maldekstra“ steht für „links“ in der Weltsprache Esperanto. maldekstra ist online abrufbar über www.rosalux.de/publikationen/ maldekstra. Anfragen, Leserbriefe und der Bezug der gedruckten Ausgabe bitte an maldekstra@rosalux.org maldekstra #13Dezember 2021 Produktives Verhältnis, spannungsvolle Beziehung Es sei eine rätselhafte Frage, schreibt der Wiener Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner gleich am Anfang seines Buches „Die Linke und die Kunst“ und meint die Frage, was die Linke eigentlich von der Kunst wolle. Wichtig für die Annäherung an eine Antwort ist, dass hier nicht von Kultur im Allgemeinen die Rede ist. Die umfasst in Abgrenzung zur Natur so ziemlich alles, was unser menschliches Dasein ausmacht, unsere Fähigkeiten, uns zu verständigen, Wertvorstellungen zu entwickeln, uns auf Verhaltensweisen zu einigen und in die Lage zu versetzen, gemeinsame Sache zu machen. Die in dem Begriff „Kulturpolitik“ enthaltene Unschärfe drückt aus, wie schwer es uns fällt, das eine vom anderen zu unterscheiden. Oder wie faul wir vielleicht manchmal sind. Aber wichtig ist es schon. Das Erstaunliche und Ermutigende an der Kunst ist, dass weder ihre Produktion noch ihre Rezeption vollständig dominiert und aufgesogen werden können von dem, was wir die herrschenden Produktionsverhältnisse nennen. Obwohl das Entstehen von Kunst selbst Produktionsverhältnisse generiert. Sogar dann, wenn sie in kreativer Selbstausbeutung im stillen Kämmerlein oder Atelier entsteht. Ist die Kunst geeignet, den Umsturz der Verhältnisse zu befördern? Und wenn ja, wann ist sie „revolutionstauglich“? Peter Weiss befasste sich in „Die Ästhetik des Widerstands“ vor allem mit der Frage, was Kunst an Widerstand gegen Faschismus, Nationalismus und Herrschaft des Kapitals zu leisten vermag. Er bescheinigte ihr emanzipatorischen Charakter dahingehend, „dass die künstlerischen Reflexionen von Welterfahrung im Interesse der Gegenwart an die unterdrückten Wünsche und Hoffnungen derer erinnern, die im Laufe der Geschichte zu Verlierern zählten“. Weiss hat uns erklärt, dass und wie Kunst in der Lage ist, jene sichtbar zu machen, die nicht gesehen werden. Deren Heldenhaftigkeit, deren Leid, deren Recht auf würdevolle Behandlung. Die Friedens- und Konfliktforscherin Lisa Bogerts schrieb 2017, es sei trotzdem schwierig, Kunst als „Widerstand“ zu definieren, „ist sie doch als Ausdrucks- und Mobilisierungsmittel zugleich oft auch Ware des Kunstmarkts sowie Objekt staatlicher und privater Förderungsprogramme und Auftragsarbeiten“. Auch Widerstandspraktiken könnten „dominante Diskurse und somit die bekämpfte Herrschaftsstruktur reproduzieren“. Genau das erzählt von dem Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen, wenn wir über das Begriffspaar Kunst und Widerstand nachdenken. Widerstand wogegen und für wen? Wann mündet künstlerischer Aktivismus in soziales Handeln, wann ist dem, was eine Künstlerin, ein Künstler tut, politisches Potenzial eingeschrieben? Wir kennen aus dem Lauf der Geschichte, vor allem aus ihren dunkelsten Kapiteln, viele Beispiele dafür, wie Kunst sich dem Guten oder dem Bösen verpflichten kann, dem Humanismus, den Kämpfen der Pauperisierten und Ausgebeuteten oder den Diktaturen und Unterdrückern. Wir können aus der Zeit des Nationalsozialismus eine sehr lange Reihe großer Künstlerinnen und Künstler nennen, die verfemt, verfolgt, getötet wurden oder im Exil gegen das Unmenschliche arbeiteten. Wir können ebenso eine Liste zusammenstellen, in der die Namen jener stehen, die mit ihrer Kunst dem mörderischen Regime Glanz und Legitimation verliehen. Käthe Kollwitz und Leni Riefenstahl, Ernst Barlach und Arno Breker, Thomas Mann und Hans Grimm seien nur beispielhaft für diese Antagonismen genannt. Der Kunst ist nicht eingeschrieben, für die richtige Sache zu stehen. Aber sie hat die Kraft und die Möglichkeit, dem Widerstand gegen unsägliche Verhältnisse Ausdruck, Zuspitzung und Kraft zu geben. Davon soll in dieser Ausgabe in Ausschnitten erzählt werden. Massentauglich oder avantgardistisch, sich den Verhältnissen andienend oder für bessere Verhältnisse kämpfend, parteinehmend für die Unterdrückten oder Sediativ für die Masse – Kunst kann all das sein. Ohne sie, das aber sollte als gültig anerkannt werden, kann Widerstand nicht an die Grenzen kommen, die er überwinden will. Es mag sein, dass die Kunst der Linken nicht bedarf. Umgekehrt gilt das nicht. Kathrin Gerlof Kampfkunst Aus der Bürgerrechtsbewegung Chicano Movement ging die bis heute widerständige Chicanx-Kunst hervor. Die Töchter und Söhne mexikanischer Wanderarbeiter*innen wurden und werden abfällig „Chicano“ genannt. Der Begriff, der ein Schimpfwort war, erzählt die Geschichte einer Emanzipation, zu der die Kunst maßgeblich beigetragen hat. Bereits in den 1960er Jahren bildete sich eine Bürgerrechtsbewegung der Mexican Americans, die für Rechte eintrat und selbstbewusst um Würde und Anerkennung kämpfte. Mit der politischen Bewegung entstand eine Kunst, die bis heute mit ihren eigenen, kraftvollen Ausdrucksformen widerständig ist, auch wenn es inzwischen viele Versuche seitens des mexikanischen Staates gibt, sie zu instrumentalisieren. Die Wandbilder der Chicano/Chicana-Bewegung gelten in den USA, wo mexikanische Einwander*innen bis heute oft diskriminiert werden, als herausragendes Beispiel für künstlerischen Aktivismus. Eines der ersten entstand 1968 am „El Teatro Campesino“ in San Juan Bautista, einer Spielstätte von Landarbeiter*innen, die Teil einer Gewerkschaftsbewegung waren und mit ihren Kämpfen sozusagen den Beginn der politischen Bewegung markierten. Um die Chicanx-Kunst sammelten sich Kulturschaffende der bildenden und darstellenden Künste, Romane wurden geschrieben, und viele Kunstwerke erlangten weltweit Aufmerksamkeit und Bedeutung.  kg Dezember 2021 maldekstra #13 3 Karl Georg Büchner, 1813 geboren, starb mit 23 Jahren an Typhus und hatte es doch geschafft, Schriftsteller, Mediziner, Naturwissenschaftler und Revolutionär zu sein. Ein Genie, einer, dessen Texte noch heute gelesen werden und auf die Bühne kommen. Wie oft wohl wurde bis zum heutigen Tag der „Woyzeck“ im Theater gespielt? Ein Fragment nur, denn der Autor starb, bevor das Drama fertig geschrieben war. Die Verhältnisse umstürzen wollte Büchner. „Friede den Hütten! Krieg den Palästen! – das war sein 1834 veröffentlichter Aufruf, alles zu verändern, die Unterdrückung zu beenden, sich vom Joch zu befreien. Der „Hessische Landbote“ druckte den Text in dieser Zeit, die man heute den Vormärz nennt. Vor der Revolution also, die kommen und die Georg Büchner nicht mehr erleben würde. Das geschriebene Werk Büchners ist nicht umfangreich, aber groß. Der „alles verschlingende“ Prozess der Geschichte beschäftige ihn. Gerade mal fünf Wochen soll er gebraucht haben, „Dantons Tod“ zu schreiben, ein Drama über das Scheitern der Französischen Revolution. Und selbst wer nur die Lektürehilfe, statt des ganzen Dramas gelesen hat, weiß heute oft zu zitieren: „Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!“ Aus Dantons Tod stammt die Vorstellung, dass eine Revolution ihre Kinder fressen kann und hat sich später wieder und wieder bestätigen müssen. Büchner ist düster, prophetisch und ungeduldig gewesen. Bis heute streitet sich die Fachwelt darüber, ob hier ein Sozialrevolutionär zur Feder gegriffen hat oder ein Dichter zum Revolutionär geworden ist. Aber das ist wirklich nicht das Wichtigste, will man von Georg Büchner sprechen. kg 4 maldekstra #13Dezember 2021 Ungehorsamkeit und Widerstand Wie lassen sich Bilder finden und Gegenstrategien entwickeln, deren künstlerische Kraft andere ermutigt und den Kämpfen der Gegenwart eine Erzählung gibt? Gelbe Gummienten, die über den Köpfen von Demonstranten in Bangkok schweben, Pink Gangs, die in Indien Straßen und Häuser patriarchalischer Gewalt zurückerobern, Frauen mit verbundenen Augen, die in Chile tanzen und „Der Vergewaltiger bist du“ skandieren, gelbe Regenschirme gegen Tränengas in Hongkong: Überall auf der Welt stellen sich Menschen den alten und neuen Formen des Autoritarismus mit kreativen, sinnlichen und subversiven Strategien entgegen. Der Kampf gegen die verschiedenen Formen von Autoritarismus, wie Rassismus, Antifeminismus, Konservatismus und Nationalismus weltweit bringt manchmal kraftvolle Symbole und geradezu ikonische kulturelle Artefakte hervor, die um den Globus reisen, globale Sichtbarkeit erlangen und andere Gegenstrategien und Momente des Widerstands inspirieren. Es gibt aber auch Tausende Aktionen, Interventionen, Mobilisierungen und Räume, die dazu beitragen, dem Autoritarismus im lokalen oder regionalen Kontext zu trotzen, ohne ein globales Publikum zu erreichen. Sie können deshalb anderswo auf der Welt Menschen nicht inspirieren und ermutigen. Eine Fehlstelle, ein Verlust. Ein Straßenkunstwerk oder eine breit angelegte öffentliche Kampagne, ein Gedicht oder ein Raum für poetisches Schaffen, ein kleines widerständiges Medienunternehmen, ein politisches Theaterkollektiv oder ein satirisches Meme: Wirksame Gegenstrategien untergraben und widersetzen sich den Symbolen und Sprachen neuer und alter Autoritarismen und kreieren eine kraftvolle Gegenästhetik. Autoritäre Ideologien funktionieren häufig weniger über den Kopf – mittels guter Argumente oder schlüssiger Strategien – als über den Bauch, über wirkmächtige Bilder, emotionale Perfomances, die Ästhetisierung der Politik. Eben deshalb braucht es, neben scharfen und systematischen Analysen der globalen Hinwendung zum Autoritarismus, wie wir sie derzeit erleben, auch Gegenstrategien, die sich mit dieser emotionalen Politik des Autoritarismus befassen und emanzipatorische Alternativen in einer anderen Sprache und mit radikal anderen sinnlichen Erfahrungen vermitteln. Um bereits existierende Gegenstrategien zu sammeln und diejenigen zu inspirieren, die noch kommen werden, arbeitet derzeit ein Redaktionskollektiv um die „International Research Group on Authoritarianism and Ein spannendes Projekt mit dem Titel „Visuelles Handbuch über Widerstand, Ungehorsam, Umkehrung autoritärer Regime, politische Bewegungen und Aktivisten weltweit“. Wie ist diese Idee entstanden? Aurel: An dem Projekt arbeiten verschiedene Leute, extern und aus der Stiftung. Wir haben vor einem Jahr angefangen, darüber zu diskutieren. Börries leitet das Internationale Forschungskolleg zu Autoritarismus und Neoliberalismus in Indien und China, ich beginne dazu gerade ein Promotionsprojekt. Uns ist in den Diskussionen aufgefallen, dass die Analyse des Autoritarismus immer wieder zu den gleichen Schlussfolgerungen kommt: dass gängige Erklärungen nicht ausreichen, sich Autoritarismus nicht nur aus dem ökonomischen System erklären lässt. Nicht nur damit, dass es sich um Demagogen handelt, die durch kluge Tricks an die Macht gelangen. Es gibt eben auch diese Komponente, dass Menschen emotional angesprochen, mobilisiert werden, also eine tiefere, psychologische Ebene, die diese Mobilisierung ermöglicht. Das wurde schon auf verschiedene Arten beleuchtet. Es wird nicht nur mit rationalen Argumenten überzeugt, es gibt noch etwas anderes, das bewegt wird. Und obwohl es diese Erkenntnis gibt, wird das zu selten übertragen auf die Gegenstrategien. Die werden dann doch wieder darauf geprüft, welche Argumente da sind und was erreicht werden soll. Man bezieht Counter-Strategies“ (IRGAC) und das „kollektiv orangotango“ an einem Handbuch über Widerstand und Ungehorsam gegen autoritäre Regime, Bewegungen und Ideologien. Die Mitwirkenden aus über 25 Ländern – Aktivist*innen, Journalist*innen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen – sind während des Entstehungsprozesses in Kontakt und arbeiten zusammen an dem Buch, das außerdem von einer Online-Plattform begleitet wird. Das Sammeln und Verknüpfen unterschiedlicher Erfahrungen wirft viele Fragen auf: Was sind erfolgversprechende emotionale und visuelle Gegenstrategien? Wie untergräbt man autoritäre populistische Diskurse, Kommunikationsstrategien und Logiken? Welche Bilder begünstigen Ungehorsam und Widerstand? Welche Rolle spielen Ästhetik, sinnliche Erfahrung und Symbole bei solchen Gegenstrategien und bei der Vermittlung von Alternativen zur autoritären Herrschaft? Wie könnte eine emanzipatorische Gegenästhetik aussehen? Hier ein Gespräch mit zwei Initiator*innen des Projekts, das bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung angebunden ist, Börries Nehe und Aurel Eschmann. sich weniger auf die Erfahrungsräume, die psychologischen Welten, auf die Transformationen, die in der Gegenstrategie enthalten sind. Wir haben also eine Leerstelle gesehen, und das war der Ausgangspunkt. Ihr habt auf die emotionale Seite der Kämpfe abgestellt? Börries: Wir meinen, dass man Autoritarismus, die autoritäre Transformation von Kapitalismus und die sozialen Verwerfungen besser versteht, wenn man sich konkrete Kämpfe anschaut. Es ist häufig so, dass die Analyse sehr auf die Akteur*innen der Regime blickt, aber weniger dorthin schaut, wo konkrete Kämpfe stattfinden, sich die Strategien ansieht, wie diese Kämpfe geführt werden. Dabei eröffnet das neue Einblicke. Es ist nicht jenseits davon, sondern ein Teil. Der Nachteil jener, die gegen Autoritarismus kämpfen, ist, dass sie sich ja nicht der gleichen Mittel bedienen dürfen. Nicht der Lüge, der Manipulation, der Einschüchterung. Die Methoden, die dem Autoritären zur Verfügung stehen, verbieten sich. Wenn man emotional ansprechen will, ist das eine Schwierigkeit. Aurel: Die emotionale Strategie von emanzipativen Momenten muss sich anderer Methoden bedienen, richtig. Jede Art von Herrschaftssystem, jede hegemoniale Politik arbeitet mit Subjektivierungen, bedient sich der Psychologie der Massen. Auf dieser Dezember 2021 Ihr wollt also aufbereiten, was schon da ist oder da war? Börries: Genau, wir wollten uns anschauen, was erfolgreiche Strategien sind. Das geht nur mit einer Hat sich bei dem, was eingereicht wurde, gezeigt, dass die Welt eine globale ist? Anders gefragt, habt ihr in den eingereichten Projekten aus verschiedenen Regionen der Welt die ganze Welt gefunden? Börries: Das ist die Schwierigkeit auch bei der Analyse des Autoritarismus: herauszufinden, was die vergleichbaren und verbindenden Elemente sind und was ganz kontextabhängige lokale Geschichten sind. Das sehen wir auch bei den Counter-Strategien. Das grüne Tuch kenne ich aus ganz Lateinamerika. Es ist ein Identifikationssymbol für den globalen feministischen Kampf. Die Zapatistas sind seit dem Aufstand 1994 mit ihrem Anliegen inspirierend für etliche Kollektive überall auf der Welt. Es ist nicht an uns, zu entscheiden, was verallgemeinerbar ist. Stattdessen schauen wir, was an Globalisierung der jeweiligen Symbolik, der Kämpfe, die sich ihrer bedienen, passiert. xx s: Am Ende des Projekts soll ein Handbuch vorliegen, kombiniert mit einer Plattform, über die Vernetzung möglich ist. Euch geht es im weiteren Sinne um kunstvolle, künstlerische Formen des Widerstands. Um kreative Strategien, die sich aller Mittel und Möglichkeiten künstlerischer Verfremdung und Freiheit bedienen. Aurel: Die Idee mit dem Buch stand nicht gleich am Anfang. Aber wir wussten, dass wir uns die tiefe Ebene der Gegenstrategien anschauen und die Frage stellen wollten, was diese Bewegungen voneinander lernen können. Wie ließe sich Austausch organisieren? Wie können politische Strategien mit diesen praktischen Erfahrungen verknüpft werden? Was ist erfolgreich und was nicht? Nicht jede Kunst, nicht alles, was Künstler*innen tun, ist aufklärerisch, widerständig, politisch. Es gibt immer auch staatstragende, Regime hofierende, sich andienende Kunst. Welche Kriterien habt ihr angelegt, wenn es dann doch auch darum ging, eingereichte Beiträge zu bewerten? Aurel: Die Beitragenden haben uns erklärt, warum das in ihren Augen eine Gegenstrategie ist. Es gibt viele Formen und Kunstaktionen, die nicht auf den ersten Blick widerständig wirken, aber im jeweiligen lokalen oder regionalen Kontext sehr explosiv sind. Die einen Erfahrungsraum aufmachen, der Widerstand gegen Autoritarismus mobilisiert. Hier ist ein grünes Halstuch ein grünes Halstuch. Mehr nicht. Es gab natürlich auch Fälle, wo wir nicht einschätzen konnten, ob das wirklich Widerstand ist oder angepasst. Da konnten wir auf die internationale Expertise des Kollegs von Börries zurückgreifen. Es ist ohnehin nicht einfach, zu sagen: Das ist antiautoritäre Kunst, das ist angepasste Kunst. to Ihr sucht also nach der Grenzüberschreitung, der es ja immer bedarf? Und eure Ausgangsidee war, im Einzelnen nach dem zu schauen, was alle interessieren, ermutigen könnte? Börries: Wir haben gesagt, wir müssen mehr über die Gegenstrategien reden, die Analyse ist wichtig, aber was passiert überall auf der Welt im Widerstand gegen Autoritarismus? Was daran ist global? Überall auf der Welt gibt es Bewegungen, Akteur*innen, die wissen meist nichts voneinander. Lasst uns versuchen, das sichtbar zu machen und diese Menschen miteinander zu vernetzen. So ist nach und nach die Idee für dieses Buch entstanden. gewissen Empirie. Ein Ziel ist tatsächlich der Wissenstransfer. Und wir haben schon bei der Sichtung der rund 130 eingereichten Beiträge gemerkt, wie ermutigend es ist, sich das einfach nur anzusehen. Was da überall auf der Welt passiert, wovon wir noch nie gehört haben, weil eine Graffiti-Intervention in irgendeiner mittelgroßen Stadt in Indien, die hier in den Medien gar nicht vorkommt, stattgefunden hat. Wo ein Kollektiv fantastische Arbeit macht, aber du weißt es hier einfach nicht. Es gibt so ganz kleine, temporäre Projekte, von denen man lernen kann. Und es gibt natürlich auch große Kämpfe, Symboliken, Formen. Wir haben beispielsweise auch einen Beitrag zu den Zapatistas, die im Mai 2021 eine Reise durch Europa begannen, um zu erzählen, zu vernetzen, zu berichten, welcher Formen und Möglichkeiten sich ihre Kämpfe bedienen. Es gibt so starke Bilder, die über Jahrzehnte und länger als Ausdruck des Widerstandes funktionieren, wie das weiße Kopftuch der „Madres de Plaza de Mayo“, das in Argentinien zum Symbol der Zivilcourage gegen die Militärjunta wurde. Heute steht dort das grüne Halstuch für Rebellion der Frauen gegen patriarchale Unterdrückung, Diskriminierung, Gewalt. 5 Fo Ebene können aber auch Gegenstrategien ansetzen. Dahin wollen wir kommen. Wir wollen uns das Mosaik von Gegenstrategien anschauen, um zu einem noch besseren Verständnis von Autoritarismus zu gelangen, aber auch zu verstehen, wie erfolgreiche Gegenvisionen auf dieser Ebene agieren, wie Gegenvisionen entstehen und angenommen werden. Was für alternative Subjektivierungen, Erfahrungs- und Beziehungsräume werden durch die Gegenstrategien ermöglicht oder durchbrochen? Was funktioniert? Das heißt, die widerständigen Momente müssen schon stattgefunden haben, denn uns geht es um gemachte Erfahrungen. Börries: Diese Erfolge sind oft sehr temporär, schwer messbar, können sich wandeln. Der Protestmoment ist immer ambivalent und kann danach in eine andere Richtung abdriften. Rebellion und die Geste von Rebellion wurden ja mehr und mehr von der autoritären Rechten monopolisiert. Deshalb erscheinen Gegenstrategien oft eher als die bloße Verteidigung einer bürgerlichen Staatlichkeit. Die Linke ist in die Position gekommen, gemeinsame Sache zu machen mit zumindest nichtautoritären, aber liberalen oder neoliberalen Kräften. Minimalkonsens also. Wir jedoch fragen nach dem Rebellischen in den Gegenstrategien. Nach dem Widerständigen, dem, was weitergeht, als ein liberales, bürgerliches Verständnis von Gesellschaft. Wie können wir eine Sprache, einen Gestus, eine Ästhetik von Rebellion gegen das Bestehende finden? Oder gar Revolution? maldekstra #13 xx xx Börries Nehe koordiniert die International Research Group on Authoritarianism and CounterStrategies der Rosa-LuxemburgStiftung. Im Frühjahr erscheint das von ihm mitherausgegebene Buch „Geographien der Gewalt. Macht und Gegenmacht in Lateinamerika“ beim Mandelbaum Verlag. Aurel Eschmann ist Wissenschaftler und freier Journalist. Er forscht zum Zusammenhang von Autoritarismus und Neoliberalismus in Indien und China. Das Gespräch führte Kathrin Gerlof. 6 maldekstra #13Dezember 2021 Aber wird das Buch dann am Ende wirklich ein Handbuch im klassischen Sinne, mit To-do-Listen, Waschzetteln, Handlungsanleitungen? Aurel: Darüber haben wir viel diskutiert. Natürlich wollen wir, dass viele von vielen lernen können. Wir versuchen eher, die Momente für sich sprechen zu lassen. Und weniger, zu verallgemeinern im Sinne einer Handlungsanleitung, die ja dann suggerieren würde, dass es so immer funktioniert. Natürlich gibt es Erzählungen über Protestformen, die sozusagen einen Siegeszug antreten. Die gelbe Ente zum Beispiel: Ursprünglich in China benutzt, um die Überwachungsalgorithmen zu umgehen, die Panzer auf dem Tiananmen-Platz wurden durch gelbe Enten ersetzt. Dann in Hongkong Symbol des Widerstands, ebenso in Thailand. Gleichzeitig haben wir bei den Einsendungen auch gesehen, dass es viele lokale Proteste gibt, die sich ähneln, da geht es uns schon darum, diese in Beziehung zu setzen. Börries: Nicht aus jeder Erfahrung ist etwas ganz Konkretes für die Praxis zu ziehen. Darum geht es aber auch nicht. Wir wollen nicht nur ein Handbuch machen, sondern auch die Schönheit des Widerstandes zeigen. Das Magische in den Kämpfen. Aurel: Dadurch werden sie übersetzbar. Und wie unterscheidet ihr, was Kunst, künstlerische Übersetzung ist oder „nur“ Aktion? Da sind die Grenzen doch fließend. Börries: Die Trennlinie ist für uns nicht so wichtig. Uns geht es um Erfahrbarkeit, Vermittelbarkeit, etwas, was über den sprachlichen Diskurs hinausgeht. Wir schauen darauf, was an widerständiger Ästhetik produziert wird, und nicht darauf, ob es Kunst ist oder keine. Wir haben gesehen, dass auch bei den einreichenden Akteur*innen diese Unterscheidung so nicht gemacht wird. Aurel: In dem Buch spielt Kunst eine wichtige Rolle, aber es ist kein Kunst-Buch. Es geht um Erfahrungen. Wir haben zum Beispiel jemanden, der sich angeschaut hat, was für eine Klangkulisse der Gezi-Park in Istanbul schafft. Wenn die Menschen dort auf ihre Töpfe klopfen, um ihre Stadt zu verändern, dann ist das ein kreativer Protest. Im engeren Sinne keine Kunst. Die Zelte in Indien, in der Nähe von Delhi – Protestzelte. Die sind sehr praktisch, sie werden gebraucht, aber sie verändern eben auch die Stadt-Ästhetik und ergeben plötzlich ein völlig anderes Bild, wenn sie durch eine künstlerische Linse, als Installation im öffentlichen Raum gesehen werden. Haben sich denn auch ganz klassische künstlerische Gewerke für den Eingang in euer Buchprojekt beworben? Aurel: Wir wollen das Projekt nicht auf ProtestKunst reduzieren. Es geht nicht nur um Massenproteste. Wir haben auch Maler*innen, Filmema- cher*innen. Es gibt eingereichte Kunstwerke, die waren zum Zeitpunkt ihres Entstehens nicht explizit als Widerstand gedacht. Bei Kunst im öffentlichen Raum wird es schnell zu einer Art von Protest-Perfomance. Aber wir haben zum Beispiel einen Beitrag aus der Türkei, da hat eine Künstlerin begonnen, Träume aufzuzeichnen. Von Menschen, die unter dem jetzigen Erdoğan-Regime leben. Aus den Träumen hat sie große Plakate entworfen, die sie in den Gassen an den Wänden aufhängt. Die aber auch interaktiv sind, da können Menschen anonym ihre Träume aufzeichnen. Dabei geht es nicht primär darum, Massen zu mobilisieren, es gibt kein klares Ziel, aber es steckt eine andere Art von Erkenntnis dahinter. Und es findet trotzdem im öffentlichen Raum statt. Wie geht es weiter? Börries: Wir haben rund 130 Beiträge aus 46 Ländern bekommen und haben daraus eine erste Auswahl von etwa 40 Beiträgen getroffen. Natürlich haben wir auch festgestellt, dass es Leerstellen gibt. Um ein paar von denen zu füllen, sind wir aktiv auf die Suche zu bestimmten Themen oder in bestimmten Regionen gegangen. Der Anspruch ist aber nicht, die Welt und all ihre Kämpfe zu repräsentieren. Aurel: Wir sehen schon, dass besonders aus den Ländern, in denen autoritäre Transformationen stattfinden, viele Beiträge gekommen sind. Indien, die Philippinen, Brasilien, Türkei. Dort gibt es gleichzeitig auch eine große Tradition im Widerstand. Wir sehen auch, dass Autoritarismus eben kein außereuropäisches Problem ist. Es gibt Beiträge aus Ungarn und Polen. Aber wir haben im Moment auch noch Leerstellen. China zum Beispiel. Das Land, in dem weltweit die meisten Streiks stattfinden, in dem trotz Überwachung und Kontrolle unglaublich viel widerständige Kunst entsteht. Das bildet sich im Moment noch nicht genügend ab in den eingereichten Beiträgen. Börries: Es gibt zum Beispiel auch zwei Beiträge zum europäischen Grenzregime und Beiträge zum Thema Kolonialismus. Die Idee ist ja, nicht nur das Buch zu machen, sondern auch eine Plattform zu schaffen, über die sich die Künstler*innen und Aktivist*innen vernetzen, voneinander lernen können. Wir wollen Momente des Widerstands verewigen, auch in einem Format, zu dem viele Zugang haben. Aurel: Das auch, weil die Geschichte solcher Gegenstrategien ja schnell „überschrieben“ wird, also droht, in Vergessenheit zu geraten. Diese Momente, in denen alles möglich scheint oder ist, festzuhalten und auch ein bisschen zu feiern, das ist eben auch Anliegen dieses Projekts. Die OnlinePlattform soll dann mit Erscheinen des Buches starten. Das Buch soll Ende 2022 erscheinen. Dezember 2021 maldekstra #137 Es gibt ein Museum, das ihr gewidmet ist. Das befindet sich in Köln und wurde am 22. April 1985, dem 40. Todestag der Zeichnerin, Grafikerin, Bildhauerin, Kämpferin, eröffnet. Verheiratet mit dem Arzt Karl Kollwitz, flieht die 1867 geborene Künstlerin mit ihm in die Tschechoslowakei, kehrt Wochen später nach Berlin zurück, ist zu diesem Zeitpunkt schon eine weit über die Grenzen hinaus bekannte Frau, die in Museen unter anderem in den USA ausgestellt und gefeiert wird. Ab 1935 werden ihre Werke aus den deutschen Museen verbannt, beschlagnahmt – sie gelten als entartet. Ihre bildhauerischen und grafischen Arbeiten sind Kampfansagen gegen den Krieg, Ausdruck großer Trauer und Verzweiflung über das Barbarische, das jedem Krieg innewohnt. Ihre Werke tragen Titel wie „Tod“, „Proletariat“, „Krieg“. Sie war mutig, sie hat den Krieg in Deutschland überlebt, versucht, anderen Menschen zu helfen, sie ist kurz vor Kriegsende gestorben. In Moritzburg, wohin sie nach der Zerbombung ihrer Wohnung gezogen ist. Wie keine Zweite habe sie, schreibt das ihr gewidmete Museum, die Themen Krieg, Armut und Tod, aber auch Liebe, Geborgenheit und das Ringen um Frieden in „nachdrücklicher Weise“ zum Ausdruck gebracht. Viele ihrer Werke gehören auch heute zum kollektiven Gedächtnis jener, die eine bessere Welt träumen. kg 8 maldekstra #13Dezember 2021 Nicht an Unterdrückung und Zensur gewöhnen Seit sich die politische Agenda permanent verändert, erscheinen in der Türkei Interventionen im Namen der Kunst häufig zweitrangig. Von Merve Namlı Dieser Artikel ist Doğan Akhanlı gewidmet, einem lieben Freund, Kameraden, Schriftsteller, einem großartigen Menschenrechtsaktivisten, Vater, Sohn, dem faszinierendsten Flaneur, den ich je getroffen habe! Işıklar içinde uyu! (1957–31. Oktober 2021) Seit der AKP-Regierungsübernahme vor 19 Jahren steht die Kunstwelt unter Druck und ist von Zensurmaßnahmen bedroht. Zu den Methoden zählen Einschüchterung, Marginalisierung, Beleidigung, verbale und physische Angriffe, polizeiliche Ermittlungen, Strafverfolgung, Verbote. Das alles zerstört gesellschaftliche Vielfalt, Meinungsfreiheit und kritisches Denken. In diesem Klima wird Kunst zu einer prekären Angelegenheit, das gilt insbesondere für alle Unterstützer*innen der Gezi-Park-Proteste 2013. Dem legendären Istanbuler Atatürk-Kulturzentrum (AKM), seit 1996 in Betrieb und das viertgrößte weltweit, wurden 2002, im Jahr der AKP-Regierungsübernahme, die Mittel gekürzt. Ohne sich um dessen historische und kulturelle Bedeutung zu scheren, argumentierte die Regierung mit den Mieteinnahmen, die auf dem Grundstück zu erzielen seien, und gab das AKM zum Abriss frei. Erst aufgrund massiver Kritik wurde dieser Plan 2012 aufgegeben und das Kulturzentrum restauriert. Andere hatten weniger Glück: Das Emek-Kino in Beyoğlu wurde 2013 durch eine ShoppingMall ersetzt. Atilla Dorsay, ein angesehener Filmkritiker, der dagegen protestierte, wurde auf der Baustelle angegriffen. Andere Kinos, die als Unterstützer der GeziProteste galten, bekommen seitdem keine Gelder mehr. Die Jury des 51. Antalya Golden Orange Film Festival hatte „Love Will Change the Earth“, Reyan Tuvis Dokumentarfilm über die Protestbewegung, in die Vorauswahl genommen. Doch das Festival-Management verhinderte, dass der Film im Wettbewerb zu sehen war. Ein Dokumentarfilm über den während der Proteste zu Tode geprügelten Ali İsmail Korkmaz wurde auf Anordnung der Provinzregierung in seiner Heimatstadt Hatay verboten. 2016 nahm das Ankara Film Festival den Dokumentarfilm „I Remember“ über das von türkischen Luftstreitkräften 2011 angerichtete Roboski-Massaker aus dem Programm. Nach dem versuchten Militärputsch von 2016 wurden laut türkischem Bildungsministerium insgesamt 301.878 Bücher aus Schulen und Büchereien entfernt und zerstört. Eine weiterführende Schule in Istanbul leitete darüber hinaus eine Ermittlung gegen fünf Lehrkräfte ein, die Aziz Nesins Buch „Şimdiki Çocuklar Harika“ (sinngemäß: Die wunderbaren Kinder von heute) empfohlen hatten. Zuvor gab es im gleichen Schulbezirk auch schon wegen anderer Bücher ähnliche Maßnahmen. Dem berühmten Rapper Ezhel sowie seinen Musiker-Kollegen Khontkar Onur Dinç und Young Bego drohten Gefängnisstrafen, weil ihre Texte angeblich „offen zum Drogenkonsum ermutigten“. Nachdem Ezhel die Haft angetreten hatte, wurde sie in der ersten Anhörung rund einen Monat später allerdings vorerst ausgesetzt. Grup Yorum, eine der einflussreichsten türkischen Bands, wird seit Jahrzehnten systematisch in ihrer künstlerischen Ausdrucksfreiheit beschnitten. Dazu zählen Anklagen wegen angeblicher Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gegen einzelne Musiker*innen ebenso wie mindestens drei Polizei-Razzien in ihren Proberäumen. Immer wieder werden Konzerte verboten und Mitglieder der Gruppe willkürlich eingesperrt. Gegen all das protestierten Sängerin Helin Bölek und Bassist İbrahim Gökçek mit einem Hungerstreik, der 2020 mit ihrem Tod endete. Weil sie 2017 anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes zwei kurdische Lieder sang, wurde auch der Band Grup Munzur „Propaganda für eine Terrororganisation“ vorgeworfen. Die zehnmonatige Haftstrafe, zu der die Musiker*innen deshalb verurteilt wurden, ist zwar einstweilen ausgesetzt, doch nur, solange sie sich an die Auflage halten, die inkriminierten Lieder „Zindana Diyarbekir“ (Kerker von Diyarbakır) und „Serhildan Jiyane“ (Leben ist Widerstand) nicht wieder zu singen. Ähnlichen Repressionen sehen sich auch Musiker*innen ausgesetzt, die sich für Geschlechtergerechtigkeit und LGBTQ+-Rechte einsetzen. So widmete die Musikerin Melek Mosso den Opfern von Femiziden bei ihrem Konzert im August 2020 ein Lied mit den Worten „Die Istanbul-Konvention wird uns am Leben halten“. Daraufhin wurde sie mit Polizeigewalt von der Bühne geholt. Die Dankesrede des queeren Musikers Mabel Matiz, der bei einer Preisverleihung ausdrücklich „alle, die Diversität leben und verbreiten“ adressierte, wurde zensiert und nur unvollständig veröffentlicht. In der Stadt Kars nahe der armenischen Grenze symbolisierte eine 30 Meter hohe Statue mit zwei einander zugewandten Gesichtern die Freundschaft zwischen den beiden Völkern. Nur wenige Monate nachdem der türkische Premierminister das Kunstwerk als „Freak“ verunglimpft hatte, wurde es zerstört. Satellitenfotos beweisen, wie im Rahmen sogenannter „Sicherheitsoperationen“ im Jahr 2016 in der an Syrien grenzenden Provinz Mardin ganze Ortschaften dem Erdboden gleichgemacht wurden. Als die kurdische Malerin Zehra Doğan davon Zeichnungen anfer- tigte und sie über soziale Medien verbreitete, wurde sie wegen „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ angeklagt und musste für zwei Jahre und zehn Monate ins Gefängnis. Mittlerweile lebt sie im Exil. Die Diskussion um Kunst und Zensur in der Türkei flammte Anfang 2021 erneut auf, als es nach der Neubesetzung des Rektorenpostens an der Boğaziçi-Universität in Istanbul zu Massenprotesten kam. Im Rahmen dieser Proteste organisierten die Studierenden eine Gruppenausstellung, in der eines der Kunstwerke im Hintergrund die Große Moschee in Mekka zeigte, dekoriert mit LGBTQ+-Fahnen. Viele konservative Politiker*innen sahen darin eine Beleidigung der Religion und Respektlosigkeit gegenüber dem islamischen Heiligtum der Kaaba. Diese Vorwürfe waren Anlass für Polizeidurchsuchungen an der Kunstfakultät und im Studentenclub BÜLGBTI+, der daraufhin auch geschlossen wurde. Zwei Studierende wurden verhaftet, zwei weitere unter Hausarrest gestellt, woraufhin sowohl die EU als auch der UN-Hochkommissar für Menschenrechte intervenierten, die Hassattacken gegen LGBTQ+Individuen verurteilten und die Türkei aufforderten, die Studierenden freizulassen. Für Künstler*innen bedeuten derartige Zensurmaßnahmen, Drohungen und Gerichtsverfahren auch ganz konkrete ökonomische Probleme, die durch die Pandemie noch verschärft wurden. Mit der Folge, dass einige für immer das Land verlassen haben. Doch seit sich die politische Agenda permanent verändert, erscheinen innerhalb der Türkei Interventionen im Namen der Kunst mittlerweile häufig zweitrangig. Wird beispielsweise ein Film zur Kurdenfrage zensiert, wendet sich ein Teil der Gesellschaft schulterzuckend ab, weil ihn das Thema vermeintlich nicht betrifft. So bleibt breiter Widerstand gegen systematische politische Unterdrückung aus, und es kann keine Atmosphäre kollektiver Solidarität entstehen. Weder Künstler*innen noch die Öffentlichkeit dürfen sich an Unterdrückung und Zensur gewöhnen, denn das käme einer Selbstzensur gleich, die es unmöglich macht, über Freiheit, Vielfalt und Kreativität zu sprechen. In einer solchen Atmosphäre kann keine Kunst entstehen, und deshalb sollte jeglicher Unterdrückung, Einschüchterung, jedem Angriff und jeder Zensur mit kollektivem Widerstand begegnet werden. Merve Namlı ist Übersetzerin und schreibt unter anderem für die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die taz und die Böll-Stiftung. Der Text ist eine gekürzte Fassung des englischsprachigen Originalartikels. Übersetzung von Sigrun Matthiesen Dezember 2021 maldekstra #139 Engagiertes Publikum Die ungewöhnlichen Festival-Methoden von „Cinema of Resistance“ in Indien. Von Dr. Fathima Nizaruddin In den nordindischen Bundesstaaten Bihar und Uttar Pradesh leben schätzungsweise 20 Millionen Inder*innen, deren Muttersprache Bhojpuri ist. In dieser vorwiegend ländlichen Region gibt es eine seltsame kulturelle Koexistenz von traditioneller Literatur, Theater und Folk-Musik mit modernem MainstreamKino und kommerziellen, rund um die Uhr sendenden TV-Kanälen. Was es lange nicht zu sehen gab, waren unabhängige einheimische Dokumentarfilme. Das beschloss die NGO „Jan Sanskriti Manch“ (Volkskulturforum) zu ändern und rief 2005 die Initiative „Cinema of Resistance“ (COR) ins Leben, die seitdem unter Federführung des Filmemachers Sanjay Joshi jährlich fast ein Dutzend nichtkommerzielle Vorführungen und Festivals in der Region organisiert. Dabei geht es nicht darum, in einer paternalistischen Haltung „Kultur aufs Land zu bringen“, sondern darum, gemeinsam mit den Menschen vor Ort Filme zu zeigen, die etwas mit ihrem Leben, ihren Interessen und Fragen zu tun haben. Um das zu erreichen, bettet COR die Filme nicht nur in ein großes Rahmenprogramm ein, sondern verfolgt auch konsequent finanzielle Unabhängigkeit, sowohl von staatlichen Institutionen wie von Großsponsoren. Stattdessen wird mit unterschiedlichen Formen von Crowdfunding und einer großen Zahl von Freiwilligen gearbeitet – die meisten von ihnen aus den Orten, wo COR Filme zeigen soll. Nicht selten finden sich über 100 Menschen im lokalen Organisationskomitee zusammen. Durch diese notwendige lokale Verwurzlung entsteht etwas, das weit über gewöhnlichen „Kultur-Konsum“ hinausgeht, nämlich eine aktive Beteiligung und Auseinandersetzung des Publikums. Dr. Fathima Nizaruddin ist Filmemacherin und engagiert sich als Freiwillige bei „Cinema of Resistance“, außerdem forscht und lehrt sie in New Delhi zu Massenkommunikation. Der folgende Text ist ein Auszug aus ihrem auf englisch publizierten Aufsatz „Cinema of Resistance: Film Circulation and Creation of Spaces for Resistent Narratives“. Die Arbeit von COR steht in der Tradition von Kollektiven wie „Odessa“, die in den 1980er Jahren im Bundesstaat Kerala reisten, um an öffentlichen Orten Gratis-Vorführungen nichtkommerzieller Filme zu organisieren. Ein Ansatz, den außer COR heute auch Gruppen wie „Pedestrian Pictures“, „People’s Film Collective“ oder „Marupakkam“ verfolgen. Im kommerziellen Bereich existiert in Indien eine lange Tradition des „Wanderkinos“, bei dem alltägliche Orte in temporäre Kinosäle verwandelt wurden. Die in den 1980er Jahren aufkommende Video-Technologie ermöglichte dann auch die Vorführung von Independent-Dokumentarfilmen. Mittlerweile können Gruppen wie COR dank digitaler Technik kostengünstige nichtkommerzielle Film-Events organisieren. Die Initiative akzeptiert keine Sponsorengelder von Großunternehmen, sondern finanziert ihre Kinoarbeit ausschließlich durch Zuwendungen von lokalen Gruppen und Einzelpersonen. Zwar gibt es manchmal auch Fiction zu sehen, doch der Schwerpunkt liegt auf indischen Dokumentarfilmen. Inhaltlich geht es bei allen COR-Vorführungen prinzipiell um eine Infragestellung herrschender Diskurse, wobei die thematische Bandbreite vom Kastensystem über fragwürdige gesellschaftliche Mehrheitsansprüche und Entwicklungsfragen bis hin zu staatlicher Gewaltanwendung reicht. Jenseits des jeweiligen Inhalts spielen alternative Verbreitungswege eine wichtige Rolle, um für Independent-Dokumentarfilme eine interessierte Öffentlichkeit zu schaffen, so die Film- und Medienwissenschaftlerin Shweta Kishore mit Verweis auf das Modell von „Cinema of Resistance“. Dort spielen direkte persönliche Kontakte für den Erhalt des Vertriebs-Netzwerks eine entscheidende Rolle. Gespräche und Begegnungen während einer Vorführung führen oft zu neuen Kollaborationen und weiteren COR-Vorführungen an neuen Orten. Durch den Austausch von Festplatten, Telefonnummern und Mail-Adressen wird das Netzwerk erweitert – aber niemals wahllos. Denn auch wenn nichtkommerzielle Filmvorführungen durch neue Technologien erheblich einfacher geworden sind: Ohne das gesetzlich vorgeschriebene Zertifikat der staatlichen Zensurbehörde bleiben öffentliche Vorstellungen eine riskante Angelegenheit. Außerdem stellen viele Filmemacher*innen ihre Werke COR ausdrücklich für nichtkommerzielle, kostenfreie Vorführungen zur Verfügung, und sie erwarten zu Recht, dass diese Vereinbarung nicht für kommerzielle Zwecke missbraucht wird. Deshalb sind die direkten Kontakte am Ort einer Vorführung entscheidend dafür, festzulegen, wie und durch wen der Film weiterverbreitet wird. Dabei gilt grundsätzlich, dass jede weitere Station eine kostenfreie öffentliche Vorführung anbieten muss. Auf diesem Weg kann ein Film im Sinne der Kulturanalysen von Thomas de Bruijn und Allison Busch zum „Motor konzeptioneller Veränderung“ werden, und zwar sowohl in Bezug auf das jeweilige lokale Publikum als auch für die beteiligten Kulturschaffenden. So sind die Filmemacher*innen und VorführCrews bei „Cinema of Resistance“ auf die örtliche Gastfreundschaft und vorhandenen Ressourcen angewiesen und beobachten deshalb die Reaktionen auf die gezeigten Filme sehr aufmerksam. Der Austausch mit einzelnen Zuschauer*innen verändert häufig die Programmgestaltung. Gleichzeitig eröffnen die COR-Veranstaltungen an verschiedenen Orten neue Räume der Begegnung, die für die Beteiligten auch längerfristig Wirkung haben können. Durch eine solche Erweiterung und Vervielfältigung könnte das Vertriebssystem von „Cinema of Resistance“ dazu beitragen, bei Themen wie dem Kastensystem, nationaler Identität, Geschlechter- oder Entwicklungspolitik Widerstand gegen den offiziellen Staatsdiskurs zu stärken. https://cinemaofresistance.in Redaktionelle Bearbeitung und Übersetzung von Sigrun Matthiesen 10 Seit dem 11. September 1973, dem Tag des Militärputsches in Chile, angeführt von Pinochet, füllt sich das Leichenschauhaus in Santiago mit den durch die neuen Machthaber Ermordeten. Gefoltert, geschunden, nackt, blutig werden die Toten dort gestapelt. Unter ihnen der am 16. September ermordete Víctor Lidio Jara Martínez. 44 Maschinengewehrgeschosse haben seinen Körper durchsiebt. Seine Hände sind fast vollständig vom Körper getrennt. Die Hände, mit denen er Gitarre spielte. Víctor Jara war einer der Ersten, die verhaftet wurden, seine Stimme war bis zum Tag seiner Ermordung die Stimme eines politischen Kampfes für Demokratie und Menschenwürde. Er ist 40 Jahre alt, als er stirbt, und der bekannteste, populärste chilenische Künstler, denn er hat Lieder geschrieben und gesungen, die von dem handeln, was die Menschen berührt, bewegt, verzweifeln lässt. Armut, Unterdrückung, Sehnsucht nach einem besseren Leben, Widerstand. Víctor Jara kannte all das. Er wuchs auf in den Elendsquartieren Santiagos. Als Unterstützer des linken Bündnisses Unidad Popular unter Führung des chilenischen Arztes Salvador Allende war er der Militärs schlimmster Feind, und sie rächten sich grausam an dem Künstler. Fünf Tage lang wurde er gefoltert, dann erschossen und in einer Straße in Santiago aus dem Auto geworfen. 2003 bekommt das Stadion, in dem er getötet wurde, seinen Namen. kg maldekstra #13Dezember 2021 Dezember 2021 maldekstra #1311 Rekordverdächtige Politikmüdigkeit Am Beispiel der israelischen Hip-Hop-Kultur lässt sich erzählen, dass Kunst aufrütteln, aber auch verstummen kann. Von Victor E. Meuche Israel ist ein Land voller Widersprüche: Der Staat ist die einzige Demokratie im Nahen Osten, dennoch haben die Israelis ein schwieriges Verhältnis zur Politik. Historiker wie ​​Tom Segev sind sich sicher: In der israelischen Bevölkerung zeichnet sich eine Entpolitisierung ab, ein Rückzug ins Private und in das Kulturleben. Ist es also die Kunst, in der die Zukunft des Staates und der Umgang mit dem Nahostkonflikt ausgelotet werden? Wohl nicht, wie der israelische Hip-Hop zeigt. Denn gerade der Rap, dem häufig eine progressive, subversive Kraft zugesprochen wird, ist in Israel ein Musterbeispiel für die Abkehr von der politischen Sphäre: „Israels Situation ist einzigartig in der Welt“, sagt Anna C. Zie­ linska im Gespräch mit maldekstra. Die Philosophin, die an der Université de Lor­raine und Sciences Po Paris lehrt, ist Expertin für die israelische Hip-Hop-Kultur. Sie sieht die Entwicklung des Rap eng verwoben mit den politischen Umbrüchen ab 1977. An die Stelle der Arbeitspartei tritt damals der rechte Likud – und mit ihm ein neues Staatsprojekt: „der Neoliberalismus, der für sich beansprucht, Politik überflüssig zu machen“. Das neue Kabinett besiegelt auch das Ende der Kibbuzim, basisdemokratischer Kollektivsiedlungen, die bis dato staatlich subventioniert wurden. In der Folge kühlt der politische Diskurs immer weiter ab. Das Scheitern des Osloer Abkommens, die Ermordung von Ministerpräsident Rabin 1995 sowie der Vormarsch der Hamas 2005 treiben das Gefühl der politischen Entfremdung weiter voran: „Diese Ereignisse versetzten nicht nur rechte Kreise, sondern faktisch auch die Mitte und einen großen Teil der Linken in einen Zustand der Erstarrung.“ Heute ist Israel ein Land mit rekordverdächtiger Politikmüdigkeit: Nur knapp 25 Prozent der Bevölkerung waren jemals bei einer Demonstration (Griechenland: 47,6 Prozent), der Glaube an ein positives politisches Projekt existiert kaum noch. Israel sei „zu einem Land mit einer starken Armee und einem starken Finanzministerium geworden“, so Zielinska. In diesem Kontext blüht Israels Hip-HopKultur auf: Bis 2000 ist Rap hier noch ein Nischen-Genre. Während der zweiten Intifada tritt dann das Tel Aviv City Team (TACT) ins Rampenlicht – und mit ihm der Rapper Subliminal, dessen Songs nicht etwa soziale Probleme, sondern seine Liebe zu Israel thematisieren. Subliminals erstes Album „Haor m’Zion“ (Das Licht von Zion) trifft mit seinen patriotischen Texten den Puls der Zeit. „Der erste Erfolg des israelischen Rap ist also nicht mit einer Revolte gegen die vorherrschende natio- nale Politik verbunden, sondern vielmehr mit einer Legitimierung dieser Politik“, so Zielinska. Obgleich die Veröffentlichungen von Subliminal politisch rechts zu verorten sind – die traditionelle Politik lehnt er von Anfang an ab: „Rechte und linke Politiker spalten“, rappt er gemeinsam mit TACT-Kollege The Shadow in „Divide and Conquer“. Parallel zum zionistischen Rap entwickelt sich ein arabisches Gegenstück: propalästinensischer Rap, sowohl aus Israel als auch aus Gaza. Vor der zweiten Intifada herrscht zwischen jüdischen und arabischen Künstler*innen noch Frieden: Sie arbeiten zusammen, Subliminal und The Shadow laden israelischarabische Künstler wie Tamer Nafar sogar zu Auftritten ein. Doch auch im Rap wird mit den Zusammenstößen der Ton rauer. Nafar singt statt auf Hebräisch nur noch auf Arabisch. Und er prangert eine Vertreibung der arabischen Bevölkerung während der israelischen Staatsgründung an. Spätestens 2001 geht die Freundschaft zwischen TACT und Nafar in die Brüche, als Letzterer in „Meen Erhabe“ (Wer ist der Terrorist?) rappt: „Demokratie? Ihr seht eher wie Nazis aus!“ Immer häufiger hört man indes bei TACTKonzerten Rufe wie „Tod den Arabern!“ aus dem Publikum. 2003 reagiert Subliminal darauf: „Sag das nicht. Es heißt ‚Leben für die Juden‘, nicht ‚Tod den Arabern‘.“ Über die Zeit entfernt er sich aber immer mehr von politischen Inhalten. 2021 veröffentlicht Subliminal mit „Shabbat LaShabbat“ einen CharitySong, um Geld für Senior*innen zu sammeln. Heile Welt also. The Shadow hingegen ist inzwischen zu einem ultrarechten Politaktivisten mutiert. Die Geschichte des israelischen Hip-Hop wäre aber nur unvollständig erzählt, wenn man Hadag Nahash außen vor ließe. Eine Gruppe, die in den 1990ern Hip-Hop und Reggae miteinander verbindet und sich damit von TACT abhebt. 2004 veröffentlicht Hadag Nahash „Shirat Hasticker“ (das Sticker-Lied). In dem Stück zitieren die Künstler Slogans von Auto-Aufklebern – in Israel sowohl bei der politischen Linken wie bei der Rechten eine beliebte Methode, politische Werbung zu verbreiten. Vergleichen kann man das Stück vielleicht mit „MfG – Mit freundlichen Grüßen“ von den Fantastischen Vier. „Die ganze Generation will Frieden“, zitiert Hadag Nahash darin einen Sticker. „Kein Frieden mit den Arabern“, heißt es etwas später. Der Song illustriert die Verkürzung des israelischen Diskurses auf Schlagworte und Slogans – und die scheinbare Unlösbarkeit des Nahostkonflikts. Zielinska: „Die Widersprüche, die er (der Song, Anm. d. Red.) widerspiegelt, scheinen heute paradoxerweise als solche akzeptiert zu werden, ohne dass es einen wirklichen politischen Willen gibt, sie zu konfrontieren.“ Die Israelis feiern ihre politische Resignation: Fast jeder kennt das Stück, bei Konzerten singt das Publikum mit. Heute sind es aber weder TACT noch Hadag Nahash, die den israelischen Mainstream dominieren. An ihre Stelle traten Rapper wie Tuna oder Nechi Nech. Letzterer besingt Themen wie seine eigenen Unsicherheiten und die Suche nach echter Liebe. Politische oder soziale Kritik übt er höchstens auf einer sehr abstrakten Ebene: Auf seinem Album „Welcome To Petach Tikva“ (2015) charakterisiert er die Regierung als „das organisierte Verbrechen“. Warum? Das bleibt offen. Tuna liefert mit „Rock Shloshim“ ein Album, in dem er die Sorgen seiner Generation verarbeitet: „Was bist du bereit aufzugeben? Wie viel ist noch zu erreichen?“, fragt er angesichts einer beängstigenden Hightech-Welt, die er in Israel sieht. Mit seinem zweiten Album zieht er sich aber vom Politischen zurück, rappt über sich selbst und die Wehwehchen des Star-Daseins. Was Tuna und Nechi Nech eint, ist die Liebe zu ihrer Heimatstadt Petach Tikwa. Sie singen über Diskotheken, Freundschaften aus ihrer Jugend oder die erste Liebe. Dabei schwingen Nostalgie und Selbstironie mit, eine politische Dimension meist nicht. Die Botschaft fasst Anna Zielinska so zusammen: „Familie, Beziehungen zu Freunden und unsere Identitätsfragen sind übergeordnet, nichts anderes ist wirklich von Belang.“ Die Philosophin betrachtet diese Entwicklung des israelischen Hip-Hop mit Sorge. Motive wie Freunde und Familie seien zwar wichtig. „Aber sie tragen auch dazu bei, dass die grundlegenden politischen Fragen über das Wirken des israelischen Staates nicht zur Sprache kommen.“ Für engagierte Rapper*innen ein Dilemma: Wie kann man über die Konflikte sprechen, ohne dabei gleich als militante*r, naive*r Linke*r abgestempelt zu werden? „Das Schweigen scheint der verlässlichste Helfer zu sein“, sagt Zielinska. Ein Trugschluss, denn auch der vermeintliche Rückzug ins Private ist in Wirklichkeit hochpolitisch: „Es trägt dazu bei, den Status quo aufrechtzuerhalten.“ Anna C. Zielinska (2018): La disparition de la politique : le rap entre Israël et la Palestine, entre Juifs et Arabes. Mouvements 96 (4), S. 102–110 https://doi.org/10.3917/mouv.096.0102 12 maldekstra #13Dezember 2021 Die Verleihung des diesjährigen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Tsitsi Dangarembga war eine gute Entscheidung. Überraschend oder gar mutig war sie nicht mehr – nachdem die Schriftstellerin aus Simbabwe in diesem Jahr bereits den PEN International Award for Freedom of Expression und den PEN Pinter Prize für ihr Gesamtwerk erhalten hat. Immerhin, ihren ersten Roman, der jetzt unter dem Titel „Aufbrechen“ neu aufgelegt wurde, hatte der Rowohlt Verlag bereits 1991 in der Taschenbuch-Reihe „Neue Frau“ veröffentlicht. Damals hieß die Geschichte „Der Preis der Freiheit“. Sie handelt von vielfältigen ökonomischen, patriarchalen, kolonialen Unterdrückungsmechanismen, dem Aufbegehren gegen sie und den Verletzungen individuellen sozialen Aufstiegs in derartigen Verhältnissen. Verortet im kolonialen Simbabwe, das damals noch Rhodesien genannt wurde, und doch gleichzeitig so erzählt, dass auch jede Bauerntochter beispielsweise aus dem Emsland sich darin wiederfinden kann. Tsitsi Dangarembga, die nicht nur Bücher schreibt, sondern auch Filme produziert, Reden hält, sich politisch engagiert, hat uns schon vor über 25 Jahren daran erinnert, dass Ausbeutung und Unterdrückung universale Themen sind. Damit wir es nicht immer so schnell vergessen, sollten wir endlich ihre Bücher lesen. Oder mindestens ihre Rede anlässlich der Preisverleihung. sim Dezember 2021 maldekstra #1313 Eine Sprache für alle Künstlerinnen und Künstler weltweit verstehen die Kraft, die in der Weltsprache Esperanto liegt, und nutzen das. Von Pascal Dubourg Glatigny Als der japanische Konzeptkünstler On Kawara 1966 mit seiner „Today“-Serie begann, wurde er schnell mit der Frage nach der Sprache konfrontiert. Jedes seiner täglichen Bilder – bis zu seinem Tod im Jahr 2014 entstanden etwa 3.000 – zeugt von dem Ort, an dem er sich befand. Er fügte dem Bild eine Seite aus einer Zeitung des Landes an, in dem er sich gerade aufhielt, und auf der Rückseite des Bildes wurde das Datum der Aufnahme vermerkt. Dieses Datum folgt einem Standardformat: der Tag, die ersten drei Buchstaben des Monats in der Landessprache und das Jahr. In einigen Fällen ist es möglich, den Ort anhand des Datums zu bestimmen, in anderen Fällen ist das unklar. Aber wie konnte er dieses System in Ländern anwenden, in denen er weder das Alphabet noch die Kalligrafie beherrschte? Kawara entschied sich, Esperanto zu benutzen, wenn er in Russland, Japan oder einem arabischsprachigen Land zu Gast war. Die ersten drei Buchstaben der Monate im Esperanto sind manchmal mit denen in anderen Sprachen wie dem Englischen identisch, manchmal sind sie deutlich unterschiedlich. Die Verbindung zum Raum, seine Geschichte, ist somit in drei Bereichen gekennzeichnet: entweder als eine Zone unter der Einflussnahme des westlichen lateinischen Alphabets oder als eine außerwestliche Zone oder als eine dazwischenliegende und unbestimmte Zone, eine Zone der Begegnung und des Kontakts. Nur Esperanto als nicht territoriale Sprache konnte es ihm ermöglichen, seinen Wunsch zum Ausdruck zu bringen, globale Präsenz zu bezeugen, ohne unter das Joch der einen oder anderen imperialen Sprache zu fallen. Nur mit Esperanto konnte er seine tägliche und systematische Produktion praktizieren, ohne der idealistischen Illusion zu erliegen, Hunderte von Sprachen und komplexe Alphabete zu beherrschen. Esperanto entwickelte sich als sprachliche, kulturelle und politische Praxis ab Ende des 19. Jahrhunderts. On Kawara war einer der ersten Künstler, die die Kraft dieser Sprache verstanden, die visuelle Realität um uns herum darzustellen und zu hinterfragen. Esperanto ist schließlich nicht nur ein Kommunikationsmittel, das den Austausch zwischen Sprechern verschiedener Sprachen erleichtern soll; seit seiner Entstehung ist es auch ein mächtiges Instrument zur Emanzipation der Massen, das ein transnationales und globales Netzwerk nutzt, außerhalb der Kontrolle staatlicher und internationaler Institutionen. Die meisten Sprecherinnen und Sprecher des Esperanto übernehmen die ethischen Werte der horizontalen Kultur und der Gleichheit zwischen allen Menschen und allen Nationen voll und ganz; Esperanto gibt ihnen die Möglichkeit, eine Welt zu ergreifen, die frei von den politischen und kriegerischen Machenschaften der Kulturimperialismen ist. In den letzten 30 Jahren hat eine wachsende Zahl von Künstler*innen Esperanto in ihr Konzept und ihre Arbeiten einbezogen. Esperanto wird oft als Zeugnis und Garant für die sprachliche und kulturelle Vielfalt verwendet: Im Jahr 2006 markierte das Künstlerkollektiv Claire Fontaine die Stadt Paris mit Neonschildern mit der Aufschrift „Fremde überall“ in verschiedenen Sprachen, darunter Esperanto. Manchmal geht der Ansatz noch weiter. 2013 entschied sich das Berliner Architekturbüro Kuehn Malvezzi, den Katalog seiner Installation für die Biennale von Venedig auf Esperanto zu veröffentlichen. Dies war ein symbolischer Akt, der jedoch zeigen sollte, dass ihr Projekt „Komuna Fundamento“ durch die Aneignung des architektonischen Raums mittels Fotografie ein Instrument zur Förderung einer neuen Sichtweise auf die Architektur sein sollte. Sie betonten damit die universellen und gemeinsamen Anforderungen an den gebauten Raum. Sie griffen einen der historischen Begriffe der Esperanto-Bewegung auf und wandten die Grundsätze der Anerkennung der kulturellen Vielfalt durch die Aushandlung einer gemeinsamen Basis von Respekt und Toleranz auf die Architektur an. In den Jahren nach dem Unfall im Kernkraftwerk Fukushima schuf der MultimediaPerformance-Künstler Tadasu Takamine, der es gewohnt ist, die gedankenlose nationale politische Identität zu hinterfragen, ein Werk mit dem Titel „Fukushima Esperanto“. Der Betrachter sieht eine verwüstete Landschaft, in der sich Müll ansammelt. Das wird von einer Melodie begleitet, von einem japanischen Kinderlied, das auf Esperanto gesungen wird und dessen Melodie abwechselnd verständlich und verschwommen ist. Der Text wird auf den Boden gedruckt und verschwindet wieder. Selten wurde betont, dass die Umweltkatastrophe mit einer kollektiven Katastrophe einherging, in einem Land, das 1945 durch die Atombombe verwüstet wurde. Beide Ereignisse fanden in Japan statt, aber beide sind auf eine Globalisierung des Schlimmsten zurückzuführen, das sowohl den Krieg als auch die kapitalistische Produktivität bestimmt. Der Gebrauch von Esperanto versucht, Distanz zu Ereignissen zu schaffen, die allzu schnell als national eingestuft werden könnten, und Esperanto bringt wieder Rationalität in eine Lesart der Welt, die keinen Sinn mehr zu ergeben scheint. Seit seiner Entstehung hat Esperanto alle Gesellschaftsschichten erreicht, und es wurde manchmal von radikal entgegengesetzten politischen Optionen durchkreuzt. Die Sprache hat Menschen von allen Kontinenten zusammengebracht, die Hunderte von verschiedenen Muttersprachen sprechen und allen möglichen Religionen anhängen oder auch die Spiritualität im Namen der Vernunft ablehnen. Esperanto wurde als Instrument benutzt, um dem nationalen Zustand und dem patriarchalischen und hierarchischen Charakter der modernen Gesellschaften zu entfliehen. Esperanto ist an keinen Staat, keine Partei und keine Armee gebunden, und es hat sich weiterentwickelt, trotz der Versuche totalitärer Regime, es zu vernichten. Die Sprachgemeinschaft hat einen Raum erzeugt, in dem einerseits Erzeugnisse der großen dominanten Kulturen sowie andererseits solche von Minderheitskulturen vermittelt werden, die teilweise vom Aussterben bedroht sind. Gleichzeitig hat die kollektive Erfahrung der Gemeinschaft eine eigene Kultur geschaffen, eine literarische, musikalische und künstlerische Geschichte. Sie zeugt vom Wunsch nach Austausch und von dem Willen, einen Ort zu haben, an dem die ethnischen Sprachen gleichberechtigt sind. Dieser Wunsch wurde manchmal als idealistisch und kurzlebig beschrieben, obwohl seine Wirklichkeit in der Praxis und auf lange Zeiträume angelegt ist. Da diese Kultur nicht vom Kapital und von den Eliten anerkannt wurde, war sie nicht Gegenstand von wirtschaftlichen Konflikten oder von Ausbeutung, und ihre Zukunft blieb im Besitz der Menschen, die sie hervorbringen. Ihre Geschichte lässt sich an der Geschichte von Organisationen und Verbänden ablesen, aber ihre Aktualität steht im Einklang mit der freien Kommunikationsgesellschaft, die das Internet bietet; so ist es nicht überraschend, dass viele, die Esperanto sprechen, der Gemeinschaft der freien Software und der digitalen Initiativen angehören. Pascal Dubourg Glatigny forscht zu den Zusammenhängen von Kunst, Wissenschaft und Technik in der Neuzeit. Er war an verschiedenen internationalen Institutionen tätig, darunter das European University Institute, Florenz, und das Centre Marc Bloch, Berlin. 14 maldekstra #13Dezember 2021 Sansibar Warum sich Liebe und Revolution nicht trennen lassen Von Sigrun Matthiesen 60 Jahre ist es her, dass Tansania ein unabhängiger Staat wurde, nachdem das Land und seine Bewohner*innen zuvor 150 Jahre lang erst von den Deutschen, dann von den Briten kolonialisiert worden waren. Der Kampf um diese Unabhängigkeit spielt eine zentrale Rolle in „Tug of War“ (Original in Kisuaheli: „Vuta N’Kuvute“), dem jüngsten Film des tansanischen Regisseurs Amil Shivji. Der Film spielt in den 1950er Jahren und handelt, so sagte Shivji in einem Gespräch mit Hildegard Kiel von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, „vom Erwachsenwerden, von der Liebe und von der Revolution“. Dabei lassen sich diese zeitlosen Themen in der konkreten Geschichte gar nicht trennen, sondern sind unauflösbar miteinander verwoben. Erstens, weil sich die Protagonisten, eine indische Frau und ein afrikanischer Mann, unter den rassistischen Regeln der Kolonialregierung gar nicht verlieben dürften, zweitens, so Amil Shivji, weil ihre Liebe unter diesen Umständen selbst eine revolutionäre Tat darstelle, „die ihr Umfeld motiviert und anspornt“. Entscheidend ist auch der Ort des Geschehens, nämlich die Insel Sansibar. Sie gehörte damals noch zum Osmanischen Reich und wurde erst 1964, nach der sozialistischen Revolution unter Julius Kambarage Nyerere, Teil des Staates Tansania. Seitdem gelten die beiden in der offiziellen Geschichtsschreibung als „großer und kleiner Bruder“. Doch auch das ist ein aus der Kolonialgeschichte entstandener Mythos. Denn während die Errungenschaften der Revolution für viele Menschen auf dem Festland eindeutige Verbesserungen darstellten, hatte das als „Sklavenhändler-Insel“ verfemte Sansibar zahlreiche Todesopfer zu beklagen. Offizielle Zahlen sprechen von 6.000, tatsächlich waren es wohl über 10.000 – bei einer Bevölkerung von 300.000 Menschen. Dieses kollektive Trauma wurde bis heute nicht bearbeitet. „Nach der Revolution gab es keine Tribunale und keine Aussöhnung“, so Amil Shivji, „und es ist ja noch nicht so lange her. Die Überlebenden sind noch da, und weil sie niemals wirklich über ihre Erfahrungen sprechen konnten, geben sie die Traumata an ihre Söhne und Töchter weiter. Das ist ein Grund für andauernde Spannungen. Jedes Mal, wenn es Wahlen oder ein anderes Ereignis gibt, das Sansibar an seine fehlende Autonomie erinnert, entstehen Wut und Frustration, die in Gewaltausbrüchen enden.“ Er versteht „Tug of War“ als Beitrag zur aktuellen Diskussion um die gemeinsame Geschichte – auch wenn der gleichnamige Roman des tansanischen Autors Adam Shafi, auf dem sein Film beruht, gut 20 Jahre alt ist. An einigen entscheidenden Punkten hat der Regisseur die literarische Vorlage deutlich weiterentwickelt: So ist die weibliche Hauptfigur Yasmin, die im Roman in patriarchaler Tradition vor allem den revolutionären Elan ihres Geliebten mobilisiert und ansonsten passiv bleibt, im Film selbst zur Aktivistin geworden. „Ich wurde von sehr starken Frauen erzogen, meiner Mutter und meiner Schwester, also war es für mich selbstverständlich, starke weibliche Charaktere in meinem Film zu haben“, sagt der 1990 geborene Filmemacher. In seiner Kindheit gehörte der Roman zum Schulstoff, und er hofft, dass sein Film heute in den Klassenzimmern seines Landes gezeigt wird. Denn, so sagt er, „diese Geschichte Sansibars steht nicht in unseren Schulbüchern. All die Archiv-Aufnahmen aus der Kolonialzeit sind entstanden, ohne dass wir selbst hinter der Kamera standen. Was bedeutet, dass die Geschichte dieser Zeit bis heute nicht aus unserem Blickwinkel erzählt wurde.“ Das Beharren auf dem eigenen Blickwinkel prägte folgerichtig auch die Produktionsbedingungen: Der Regisseur schlug die Angebote großer Streamingdienste aus, weil er den Film nicht überwiegend auf Englisch drehen wollte, sondern auf Kisuaheli. Stattdessen gelang es ihm, auch mit substanzieller finanzieller Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, den südafrikanischen Produzenten Steven Markovitz für den Stoff zu interessieren. Der akzeptierte Amil Shivjis Grundbedingung, den Film so weit wie irgend möglich mit einheimischer Infrastruktur und einheimischen Ressourcen umzusetzen. Obwohl Tansania bislang ein Land ohne nennenswerte FilmInfrastruktur ist, wurde komplett auf Sansibar gedreht, und auch beim Team und bei den Schauspieler*innen konnte er seinen Vorsatz zu 95 Prozent umsetzen. Im Ergebnis sei Sansibar selbst zu einem Protagonisten des Films geworden, „wie es sich stets gewehrt hat, gegen jegliche Anfeindung von wem auch immer“. Diese Geschichte, die 1950 spielt, um eine Reflexion auf das heutige Tansania zu ermöglichen, spricht offensichtlich auch Menschen außerhalb des Landes an. Beim diesjährigen Toronto Film Festival war „Tug of War“ zu sehen – als erste tansanische Produktion in der 46-jährigen Geschichte des Festivals. Wenn sich die Berlinale-Jury den Kolleg*innen aus Kanada anschließt, kann sich auch das hiesige Publikum auf eine neue Geschichte von Liebe und Revolution freuen. Der Text basiert auf einem ausführlichen Gespräch zwischen Amil Shivji und Hildegard Kiel, das auf Englisch nachgelesen werden kann: www.rosalux.de Ettijahat Die Förderung unabhängiger Kultur und die Stärkung unabhängiger Künstler*innen in der arabischen Welt ist das Hauptziel der 2011 in Syrien gegründeten Kulturorganisation. Sie will den politischen, kulturellen und sozialen Wandel stärken. Die Freiheit steht hier als höchstes Gut im Mittelpunkt. Die Organisation unterstützt Künstler*innen und Kulturunternehmen auf nationaler und internationaler Ebene, fördert junge Forscher*innen, initialisiert Allianzen zwischen Einzelpersonen und Kultureinrichtungen und versucht, den Zugang zu Kultur und Kunst für lokale und internationale Gemeinschaften zu erleichtern. Sie will so die Beziehung zwischen Kunst, Kultur und allen anderen Bereichen der Gesellschaft stärken. Ettijahats Vision ist ein pluralistisches, vielfältiges, intellektuelles und künstlerisch authentisches Syrien, in dem jede*r Bürger*in das Recht auf Kultur hat. Trotz der Verschlechterung der ökonomischen, politischen und sozialen Umstände, die in Syrien, im Libanon, in der arabischen und der restlichen Welt zu beobachten sind, konnte die Organisation bereits an 218 Künstler*innen und Forscher*innen multidisziplinäre Stipendien vergeben, mehr als 300 haben an Programmen von Ettijahat, wie Diskussionsveranstaltungen, Panels und Runden Tischen, teilgenommen. Die Arbeit der Organisation ist dem Wandel aktueller Ereignisse wie einer globalen Pandemie, politischen Unruhen, Vertreibungen, Sicherheits- und Rechtsfragen unterworfen. Galt ihre Tätigkeit zunächst hauptsächlich der Unterstützung von Künstler*innen, verlagerte sich die Arbeit zunehmend auf die Aufgabe, Künstler*innen die Möglichkeit und Sicherheit zu geben, wieder in ihre Räume zu gelangen und diese zurückzuerobern.  as https://www.ettijahat.org Dezember 2021 maldekstra #1315 Bis heute ist der kleine, watschelnde Landstreicher, dieser arme Tramp, der sich eines ausgesetzten Babys annimmt und mit dem heranwachsenden Kind den harten Kampf ums Überleben und gegen die Stärkeren aufnimmt, ikonisch und berührend zugleich. Charlie Chaplin, 1889 geboren, alkoholabhängiger Vater, psychisch kranke Mutter, hat viele Jahre in Armen- und Waisenhäusern gelebt, ab dem 13. Lebensjahr als Zeitungsverkäufer, Drucker, Spielzeugmacher, Glasbläser gearbeitet. Einer von unten, einer, über den die proletarische Kinozeitschrift „Film und Volk“ 1929 begeistert schrieb, weil er alle Menschen zum Lachen bringe. Immer sind die Kleinen ganz groß in seinen Filmen. „Goldrausch“ 1925, „Lichter der Großstadt“ 1931, „Moderne Zeiten“ 1936 – dieser Wahnsinnsfilm über Massenarbeitslosigkeit mitten in der Zeit der Großen Depression. „Der große Diktator“ 1940 – das war doch linke Propaganda, sich dermaßen über ein Staatsoberhaupt lustig zu machen, als wüsste da einer bereits, dass dieser Hitler ein Massenmörder, ein Vernichter ist und auf ewig das kollektive Gedächtnis traumatisieren wird. Chaplin hat immer und in fast allen Filmen die Hungerjahre einer obdachlosen Waise thematisiert. Insofern war er ein Dokumentarist seiner Zeit, auch wenn fast alles, was er auf die Leinwand brachte, einer Komödie gleichkam. Als der durch die Industrialisierung zugerichtete Tramp in „Moderne Zeiten“, eingesaugt von der Maschinerie der Fabriken, wieder ausgespuckt mit gestörter Motorik und nicht in der Lage, mit den immer gleichen Fließbandbewegungen aufzuhören, ins Irrenhaus kommt, wieder entlassen wird, den nächsten, noch schlimmeren Job annimmt, mit dem Gesetz in Konflikt gerät und im Gefängnis landet, bittet er den Wärter am Tag der Entlassung: „Can I stay a little longer? I’m so happy here.“ Kann ich ein bisschen länger bleiben? Hier bin ich so glücklich. Eine Szene, die bis heute den ganzen Wahnsinn eines Menschen verschlingenden ökonomischen Systems auf den Punkt bringt. kg 16 maldekstra #13Dezember 2021 In den Schuhen der Unterdrückten Wie das ASHTAR Theatre seit 30 Jahren Theater für Freiheit und gegen Unterdrückung macht Von Katja Hermann Seit drei Jahrzehnten gibt es das ASHTAR Theatre in Palästina nun schon, gestartet wurde es 1991 in Ost-Jerusalem, und seit vielen Jahren ist es in Ramallah, im besetzten Westjordanland, angesiedelt. Gegründet wurde das Theater, dessen Besonderheit unter anderem darin besteht, dass es Ansätze des Forum-Theaters nutzt, und das für den palästinensischen Kontext – der geprägt ist von Besatzung und Entrechtung –, von Iman Aoun und Edward Muallem. Beide leiten das Theater bis heute. Forum-Theater, eine Form des „Theaters der Unterdrückten“, geht auf den brasilianischen Theaterautor und Theatertheoretiker Augusto Boal zurück, der seit den 1950er Jahren eine Form entwickelte, die Theater als Möglichkeit begriff, soziale und politische Problematiken aufzugreifen, Lösungen zu entwickeln und damit die herrschenden Realitäten zu verändern. In einem moderierten Verfahren werden die Zuschauenden in das Theaterstück einbezogen und motiviert, auf der Bühne Impulse für alternative Handlungen gegen die unterschiedlichen Unterdrückungsmomente zu gestalten. Die transformativen Momente, die entstehen können, wenn die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum aufgehoben wird, sieht Iman Aoun, künstlerische Leiterin des ASHTAR Theatre, vor allem in der Einbeziehung der psychisch-physischen Ebene, des Körpers also. Solange nur über Probleme nachgedacht oder gesprochen werde, bleibe die Auseinandersetzung auf der intellektuellen Ebene und habe nur geringes Veränderungspotenzial. Erst durch das Ausprobieren und Experimentieren auf der Bühne könnten sich die Zuschauenden in die Unterdrückten hineinversetzen und könnten über die Körper neue Codes, neue Möglichkeiten und manchmal auch neue Hindernisse tatsächlich verstanden werden. Dieser gemeinsame Dialog im Raum, also zwischen den Schauspielenden und den Zuschauenden, ermögliche, so Aoun, Impulse von Wandel, die beim reinen Aufführen von Stücken nicht denkbar wären. In den seit mehr als 50 Jahren besetzten palästinensischen Gebieten kommen einem Theater, das einen emanzipatorischen Anspruch hat, zentrale Aufgaben zu. Zum einen natürlich mit Blick auf die Besatzungsrealität mit ihren zahlreichen Formen der Unterdrückung, wie beispielsweise eingeschränkter Meinungs- und Bewegungsfreiheit der Menschen und ungesichertem Zugang zur Gesundheitsversorgung. Doch auch innerhalb der palästinensischen Gesellschaft mit ihren traditionalen und religiösen Prägungen gibt es Strukturen von Unterdrückung, die das ASHTAR Theatre in seinen Produktionen aufgreift, wie die Rechte von Frauen und die Rechte von Arbeiter*innen. Theater gebe Hoffnung und Schönheit, einen Raum zum Denken und zum Träumen. Kunst und Kultur seien ein wichtiger Bestandteil von Widerstand und Revolution, der in den Herzen und Köpfen der Menschen stattfinde, sagt Aoun. Um möglichst viele Menschen auch außerhalb des Theaters zu erreichen, führt die Theatergruppe ihre Stücke nicht nur im Theatersaal in Ramallah, sondern auch in den ländlichen Gebieten, an Schulen oder in Flüchtlingslagern auf. Seit vielen Jahren fördert das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah die Theaterarbeit. International bekannt wurde ASHTAR mit seinem Stück „Gaza-Monologe“ im Jahr 2010. Kinder und Jugendliche aus dem Gaza-Streifen hatten im Nachgang des Gaza-Krieges 2009 Appelle an die Außenwelt formuliert, mit denen sie gleichermaßen lautstark wie poetisch auf ihre Situation aufmerksam machen wollten: „Genug!!! Wir verdienen eine Welt, die besser ist als diese, eine Welt ohne Angst, Abriegelung oder Besatzung.“ Das Theaterteam entwickelte daraus ein Stück, das seitdem in mehr als 36 Ländern und in mehr als 52 Städten von jungen Menschen aufgeführt worden ist: ein bemerkenswerter Ausdruck globaler künstlerischer Solidarität. Am 29. November 2011 wurden die Gaza-Monologe vor den Vereinten Nationen in New York aufgeführt. Alle internationalen Aufführungen, aber auch jene in anderen Teilen Palästinas, fanden ohne die Jugendlichen aus Gaza statt, da sie aufgrund der langjährigen (und immer noch andauernden) Abriegelung von Gaza den Küstenstreifen nicht verlassen können. In Anlehnung an die Gaza-Monologe entwickelte ASHTAR später die Syrien-Monologe sowie die Lockdown-Nachrichten. Während das internationale Interesse am israelisch-palästinensischen Konflikt beziehungsweise am Leben unter der Besatzung in Palästina in den letzten Jahren geringer geworden ist, scheinen die künstlerischen Bande zwischen Palästina und der Welt – zumindest was das Theater betrifft – enger zu werden. Theatermacher*innen aus der ganzen Welt interessieren sich für die Lage vor Ort, kooperieren mit ASHTAR und kommen seit vielen Jahren zu den regelmäßigen Theaterfestivals. Seit der Corona-Pandemie werden die Austausche durch digitale Treffen ersetzt, und die Leiterin des Theaters ist eine gefragte Gesprächspartnerin. Interesse, Miteinander, Solidarität, auf der Bühne scheint das möglich zu sein, was in der internationalen Politik nicht gelingt. ASHTAR kann auf zahlreiche künstlerische Erfolge zurückschauen und ist ein international geschätzter Theaterort. Darüber hinaus ist es ein besonderer Ort für freies Denken und Gestalten, der vielen Menschen, die hier nicht nur ihr Handwerk lernen, sondern auch persönlich wachsen, einen Raum bietet. Trotz aller Errungenschaften sieht die Lage für Theater in Palästina nicht gut aus – und nicht nur für Theater: Die Dinge seien nicht gut, die Besatzung esse alles auf, sie sei schneller, stärker und harscher als sie, so Aoun. Als palästinensische Theaterleute wollen sie versuchen, ihre Geschichte lebendig zu erhalten, denn indem sie das täten, behielten sie ihre Rechte und die Möglichkeit, die Dinge zu verändern. Katja Hermann ist Leiterin des Westasien-Referats der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) in Berlin, der Text basiert auf einem Gespräch mit Iman Aoun, der künstlerischen Leiterin des ASHTAR Theatre in Ramallah. www.ashtar-theatre.org www.gazamonologues.com Dezember 2021 maldekstra #1317 Raus, raus! Ran, ran! Plätze kreativ zu besetzen wird überall auf der Welt künstlerische Ausdrucksform des Widerstands T heater: „Wir sind alle Intendant*innen“ – mit dieser Aussage setzt der neue Intendant der Berliner Volksbühne, René Pollesch, ein deutliches Zeichen. Eine politische Kampfansage an den Elfenbeinturm Theater? Soll die Bühne etwa wieder dem Volk gehören? Oder ist das alles nur Zirkus? Jedenfalls wurde im Herbst 2021 ein Zelt des Zirkus Zack vor dem Theater am Rosa-Luxemburg-Platz aufgebaut. Es sah ein bisschen aus wie auf dem Rasenplatz am Rande eines Dorfes, wenn ein kleiner Wanderzirkus aufspielt. Draußen fehlten die Tiere, drinnen wurde geredet, Theater gespielt, diskutiert, gelacht. Das Zelt mit seinen beiden Begleitwagen, auf denen in großen Lettern „Love“ und „Hate“ prangte, sollte wohl auch an ein früheres Spektakel erinnern – als Christoph Schlingensief im März 1998, ebenfalls in einem Zirkuszelt, auf dem Gelände der Volksbühne die Partei „Chance 2000“ gründete, mit der er politische Forderungen mit künstlerischen Aktionen verbinden wollte. Die Partei gibt es nicht mehr. Der Anspruch, dass Kunst politisch sein darf, manchmal sein muss, hat sich gehalten. Zudem folgte die Zirkuszelt-Idee dem Willen, diesen Platz, der den Namen einer polnischen Jüdin und überzeugten Demokratin trägt, zurückzuerobern von den sogenannten Querdenker*innen, die ihn im zurückliegenden Jahr mehrmals zum Versammlungsort auserkoren hatten, an dem sie ihre kruden Theorien in die Welt posaunten. Alles Künstlerische wird hier also politisch? Das Zelt als öffentlicher Raum und Ort der Begegnung. Kultur als Politik zu Gast im Kiez und im Gespräch, mit allen, die hier wohnen und aktiv sind. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützte dieses Interregnum und beteiligte sich an mehreren Veranstaltungen. Das Programm war üppig und endete zukunftsweisend mit der Gründung eines Staats ohne Territorium. Die ehemaligen Leiter*innen des Neuköllner Rroma Aether Klub Theaters, Slaviša Marković und sein Bruder Nebojša, hoben zusammen mit der Dramaturgin Rebecca D. Surber im Grünen Salon der Volksbühne das Rroma Staats-Tha-Aether aus der Taufe. Inzwischen ist der Platz wieder leer. Nur die niedergetrampelte Rasenfläche erinnerte noch eine Weile an das Geschehen. Bleibt die Hoffnung, dass das Haus unter seinem neuen Intendanten neue alte Wege einschlägt, den Mut zur künstlerischen Einmischung ins Politische beibehält und die Menschen nicht aus den Augen verliert. P rotest: Im September 2011 begann in New York die große Protestbewegung „Occupy Wall Street“. Tausende Menschen trafen sich im Zuccoti-Park gegen die Macht der Reichen. Sie reklamierten für sich die „99 Prozent“ (We are the 99 percent) zu sein und setzen damit ein wirkmächtiges Bild. Von Beginn an waren Künstlerinnen und Künstler dabei. Der Protest aber war keine Kunstaktion. Stattdessen fand der Versuch statt, sich an Orte der Kunst zu begeben, sie somit zu politisieren. 2012 eroberten Aktivst*innen der Occupy-Bewegung die BerlinBiennale (eine der bedeutendsten Plattformen für zeitgenössische Kunst in Deutschland). Es war eine symbolische Besetzung, die aber vielleicht auf ein Defizit aufmerksam machte: das der Kunst, die politisch ist, ohne immer gleich politische Kunst sein zu müssen. Ein toller Widerspruch. „Wir stellen uns Kunst vor, die tatsächlich wirksam ist, Realität beeinflusst und einen Raum öffnet, in dem Politik stattfinden kann“, sagte der damalige Kurator und Videokünstler Artur Zmijewski. Während andere die Frage stellten, ob das Kunst sei, was da gerade stattfände. Vielleicht, vielleicht nicht, es war angesagt, den OccupyBesetzer*innen einen Raum zur Verfügung zu stellen. Einer Bewegung also, keinem Künstler*innen_Kollektiv. Im Oktober 2011 erfasste die „Occupy-Bewegung“ die Schweiz. Im Zürcher Finanzviertel protestierten Hunderte gegen das System. Musiker*innen mischten sich mit Meditierenden, kreative Plakate „Kuriert die Blasenentzündung“, „My Boni is over the ocean“ konkurrierten mit den Luxuslabels auf dem Paradeplatz. Während er Hochzeit der Occupy-Bewegung protestierten viele Künstler*innen gegen das zeitgenössische Kunstsystem, denn auch Kunst ist längst zur Geldmaschine geworden, die Gier vieler Kunsthändler*innen ist groß. Es waren – am Ende – Momente oder Momentaufnahmen einer Möglichkeit, wie die Kunst mit dem Protest, der Protest mit der Kunst nach Formen und Möglichkeiten sucht, das gleiche Elend in verschiedenen Facetten zu beschreiben und anzuklagen. W iederaneignung: Ciudas Juárez ist eine mexikanische Grenzstadt, deren öffentliche Räume von Kriminellen besetzt wurden. In den Jahren 2008 bis 2021 eskalierte die Gewalt, kaum jemand fühlte sich noch sicher. Auch nicht Künstler*innen, die doch auf öffentliche Räume, Bühne, Auftritte angewiesen sind. Dann schlossen sich Musiker*innen zu Gruppen zusammen und versuchten, ihre Stadt zurückzubekommen. Maler*innen, die sich in die innere Emigration zurückgezogen hatten, folgten. So entstand zum Beispiel der „Bazar del Monu“, ein Kulturmarkt, der sonntags in einem großen Park stattfindet. Künstler*innen können dort ausstellen, Workhops anbieten, auftreten. In einem Interview, veröffentlicht auf der Webseite der Heinrich-Böll-Stiftung, mit der Künstlerin und Aktivistin Carolina Rosas Heimpel, die das Kollektiv mitbegründete, sagte diese 2014: „Es ist eine Wiederaneignung, um die Angst und die Verwahrlosung zu überwinden. Die Menschen haben das Gefühl, es ist ihr Ort.“ Ästhetische Intervention, auch da, wo die Stadt grau, hässlich und menschenfeindlich ist. Da wird eine Brücke rosa gestrichen, werden Jugendliche in Schulen ermuntert, sich auszuprobieren, Bilder an die Wände gemalt. Die machen die Leerstellen, die Politik lässt deutlich und sind zugleich Ermutigung. Feministische Rapperinnen singen über die Arbeit in den Fabriken, die Weltmarken herstellen, klagen die Morde an Frauen an. „Die Kunst ist das Medium“, sagte Rosas Heimpel. Sie ist zugleich Mediation und Aufruhr. Der Ort bleibt gefährlich. Aber es gibt Hoffnung. P rovokation: Die Mitglieder der Petersburger Aktionsgruppe „Woina“ (übersetzt: Krieg), 2006 gegründet von Nikolai Worotnikow und Natalja Sokol, bezeichnen sich als Stadtpartisanen und finden, dass einfach nur Kunst zu machen in diesen Zeiten viel zu konformistisch ist. Sie machen Randale. Aber oft mit künstlerischen Mitteln. „Ist das Kunst, oder muss das weg?“, ist eine von den Machthabenden sicher häufig gestellte Frage, und sie ist nicht einfach zu beantworten. Phallussymbole auf Petersburger Brücken, Videoclips über brennende Gefangenentransportwagen, satirische Songs während einer Gerichtsverhandlung gegen den einstigen Direktor des Sacharow-Zentrums, Perfomances, ein riesiger Totenschädel, der an die Wand des Arbeitssitzes von Wladimir Putin projiziert wird, eine in einem Supermarkt inszenierte Hinrichtung eines Schwulen und eines usbekischen Gastarbeiters als Reaktion auf die Homophobie des Staates – brav, gefällig oder rührend ist es nie, was das Kollektiv veranstaltet. Zumal die Gründer*innen für sich in Anspruch nehmen, der Verrücktheit, die in Russland seit dem Mittelalter respektiert werde, sozusagen ein Gesicht zu geben. Bleibt die Frage: Macht Wahn Sinn?  kg, dr, jb, fa 18 maldekstra #13Dezember 2021 Ganz große Oper Warum existenzielle Bedrohung dramatische Protestformen braucht Von Sigrun Matthiesen Marieke Wikesjo ist Opernsängerin und Mietaktivistin, Dramaturgin und Solistin der von ihr mitinitiierten Protestoper „Lauratibor“. Mit ihr sprach Sigrun Matthiesen, als Chorsängerin an Lauratibor beteiligt, über das ungenügend genutzte widerständige Potenzial der Gattung Oper. www.lauratibor.de „Lauratibor“ ist eine Protestoper, die seit 2019 in Berlin-Kreuzberg entstanden ist. Der Name stammt von zwei Straßen – Lausitzer und Ratibor – eines Viertels, in dem sich seit Jahren beinahe wöchentlich jene Dramen abspielen, die durch den Begriff „Gentrifizierung“ versteckt werden: Zerstörung gewachsener Nachbarschaften, Vernichtung beruflicher Existenzen und sozialer Treffpunkte, Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit. Die Einzelheiten der Einzelfälle unterscheiden sich: Mal wird mit Eigenbedarf argumentiert, mal mit Sanierung, es gibt international verrufene Immobilienkonzerne, aber auch vermeintlich wohlmeinende städtische Verdränger. Doch im Ergebnis läuft es immer aufs Gleiche hinaus. „Der Ausverkauf der Städte zerstört jedes Zuhause“, wie es Laura, eine der Heldinnen der Protestoper, formuliert. Diese großen Gemeinsamkeiten zum Thema zu machen, statt sich in aussichtslosen Einzelkämpfen aufzureiben, war eines der Ziele, als betroffene Künstler*innen und Aktivist*innen aus einem Wohn- und Gewerbehaus sowie ein Handwerker*innen-Kollektiv 2019 beschlossen, ihre Wut in Form einer Operndemo auf die Straße zu tragen. Die Handlung von „Lauratibor“ entstand aus den Geschichten der Menschen im Kiez. Ihre bedrohten Häuser mit den Protestbannern im Fenster bilden die „Kulisse“, und alle waren und sind eingeladen, sich mit ihren Fähigkeiten zu beteiligen: ob nun im Orchester, im Chor, beim Bau des mobilen Bühnenwagens, beim Nähen von Kostümen oder indem sie ihre Balkone zur Verfügung stellten. Pandemiebedingt verschob sich die ursprünglich für 2020 geplante Premiere auf den vergangenen Sommer. Dann jedoch war die dramatische Geschichte von Laura, Tibor und ihrem Kampf gegen Maximilius Profitikus und den Orden der Investoren nicht nur in Berlin ein großer Erfolg, sondern auch beim Opernfestival in Kopenhagen. Eine Wiederaufnahme des unter anderem von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderten Projekts im nächsten Sommer ist geplant. Marieke Wikesjo singt und spielt die Rolle der Laura. Welche politischen Hoffnungen waren zu Anfang mit dem Projekt verbunden? Viele! Vernetzung, mediale Aufmerksamkeit für unsere bedrohten Projekte, für die Gesamtsituation im Kiez … Vor allem aber ging es darum, dass wir einfach mal unsere Geschichte erzählen, ohne dass uns jemand etwas reininterpretiert oder falsche Sachen in den Mund legt. Wer seine Geschichte erzählen will, muss sich dafür Platz nehmen. Wir wollten die unserer Häuser erzählen, auf der Straße, als Oper. Und klar haben wir auch gehofft, dass Politiker und Hauseigentümer aufhorchen würden: Niemand möchte doch als Opernbösewicht in die Geschichte eingehen? knüpft an etwas an, was wir ALLE schon mal gemacht haben, nämlich Gefühle laut herauszuschreien. Was Opernsänger*innen machen, ist nichts anderes als das, was kleine Kinder können: stundenlang schreien, ohne dass es ihnen wehtut, aber mit einem Erwachsenenkörper. Von einem guten Komponisten gelenkt, ist dieser „Schrei“ emotional verständlich und berührend. An diese urkörperliche Form von Gesang kann die ganze Welt anknüpfen. Und diese Form des Berührens, die sehr viele Menschen mitnehmen kann – genau die braucht Protest, um irgendwas zu bewirken. Warum ausgerechnet dieses Genre, das vielen als konservativ gilt? Oper ist einfach extrem laut und raumgreifend, alle Gefühle sind groß. Was daran konservativ ist, habe ich nie verstanden. Wegen der Größe der Gefühle ist es schwer, von einer Oper nicht berührt zu werden – entweder man hasst sie oder man liebt sie. Jedenfalls, so meine Erfahrung, wenn Menschen ihre Vorurteile abbauen und nicht gerade in einer Situation sind, wo sie beispielsweise aus guten Gründen ihr Herz verschließen müssen. Und natürlich: Zugang zu Oper haben! Wenn sie mit teuren Eintrittskarten abgeschottet wird, hat nur ein gewisses Publikum Zugang, daher gilt sie wahrscheinlich als konservativ. Die Oper aber Wie war es bei dir selbst, warst du erst Opernfan und bist dann politisch aktiv geworden? Nein, umgekehrt. Ich habe früher Protestlieder geschrieben. Aber da ich aus einer Schauspielerfamilie komme, habe ich immer sehr viel Theater um mich gehabt, und dann habe ich die Oper entdeckt und gedacht: Wie großartig, da kann ich gleichzeitig singen und spielen! Für mich bedeutet Oper nichts anderes, als gemeinsam eine Geschichte zu erzählen. Ohne Filter. Oper ist abgrundtief, es sterben dauernd Leute. Beim Ausverkauf der Städte werden Existenzen vernichtet, das ist eine riesige Bedrohung, damit sind sehr starke Gefühle verbunden! Deshalb ist die ganz große klassische Oper meiner Meinung nach auch ein angemessenes Mittel, das sich jede*r zu eigen machen kann, um das Drama zu zeigen und Protest auszudrücken. Dezember 2021 maldekstra #13 19 Teil des politischen Kampfes In der Hauptstadt Senegals thematisiert eine Theatergruppe gemeinsam mit dem Publikum soziale Unterdrückung Wer bist du, was machst du? Ich heiße Mouhamadou Diol und bin künstlerischer Direktor der Theaterkompanie „Kaddu Yaraax“ im Senegal. Wir machen seit 20 Jahren Forum-Theater in unserem Viertel Yaraax, also da, wo wir leben. Inzwischen spielen wir auch an anderen Orten, unter anderem im ländlichen Raum. Wir veranstalten jährlich ein internationales Theatertreffen und nehmen an Treffen in Europa und Südafrika teil. Was ist Forum-Theater? Eine Methode, die sich aus den beiden Teilen des Begriffs erklärt. Theater ist eine künstlerische Darstellung: Texte, Dialoge, die auf einer Bühne gespielt werden. Forum, das ist ein öffentlicher Ort, an dem diskutiert beziehungsweise ein Thema erörtert wird. Die Methode des Forum-Theaters sieht vor, dass die Zuschauer*innen in das Geschehen auf der Bühne eingreifen. Sie können vorschlagen, dass sich eine dargestellte Person anders verhält, und übernehmen dann die Rolle der Schauspielerin oder des Schauspielers. Spielen selbst, was sie anders machen würden als im Stück vorgesehen. So werden im Theater verschiedene Handlungsoptionen ausprobiert. Was im Theater gespielt und ausprobiert wird, das sind Interventionen in den Alltag, die politisch sind, weil sie sich gegen unterdrückende Praxen und Strukturen wenden. So wird unsere Art von Theater zu einem Beitrag für einen gewaltfreien Kampf, der der Devise folgt: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Woran machst du hier in der Gemeinde Yaraax Unterdrückung fest? Yaraax war eine wohlhabende Gemeinde, die vom Fischfang und von der Landwirtschaft lebte. An den Küsten des Senegal gefangener Fisch wurde und wird heute noch handwerklich weiterverarbeitet, zum Beispiel geräuchert, und nach ganz Westafrika exportiert. Dann wurde mit der Kolonisierung Industrie in Yaraax angesiedelt, die den Menschen die Felder stahl und durch die Verschmutzung des Meeres die Erträge aus dem Fischfang reduzierte. So hat diese Kolonisierung Yaraax „unterentwickelt“. Oft ist Unterdrückung sichtbar: Militär greift ein, wo sich Widerstand regt. Heute ist Unterdrückung hingegen oft unsichtbar, subtil. Das heißt nicht, dass sie weniger gewalttätig wäre. Es handelt sich um soziale Unterdrückung, Spaltungen der Gesellschaft in Arm und Reich. Sie zu überwinden heißt, ungeschriebene soziale Gesetze zu durchbrechen, zum Beispiel im Verhältnis zwischen Männern und Frauen oder dem der Eltern zu Kindern. Dazu kommen kulturelle Verhältnisse und Klassifizierungen. In der senegalesischen Gesellschaft gibt es die noblen Kasten und die, die dies nicht sind. Zu nennen sind auch noch andere Konflikte, zum Beispiel zwischen linguistischen Mehrheiten und Minderheiten, die religiöse Macht, die in Senegal sehr bedeutsam ist. Und natürlich auch ökonomische Macht: Nepotismus und Korruption, in der Polizei, im Straßenverkehr, im Krankenhaus, in der Schule, in der Universität. Diese unsichtbare Unterdrückung machen wir durch unser Theater sichtbar, um sie besser bekämpfen zu können. Mouhamadou Diol ist künstle­ rischer Direktor der Kompanie „Kaddu Yaraax“ in der sene­ galesischen Hauptstadt Dakar. Das Interview führte und übersetzte Claus-Dieter König, Leiter des Büros Westfrika der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Dakar. Gibt es aber nicht auch eine Tendenz, dass die sichtbare Unterdrückung wieder zunimmt? Hier in Westafrika meist dann, wenn Präsidenten verfassungswidrig mehr als zwei Amtszeiten regieren wollen. Beeinflussen die auch im Senegal zunehmenden Maßnahmen des Staates gegen die Opposition bereits eure Arbeit als Theaterkompanie? In einem gewissen Sinne enorm: Statt dass wir Beispiele aus anderen Ländern, wie Mali, nennen, genügt es, darzustellen, was hier um uns herum passiert. Deswegen wirken wir mit an einer Sensibilisierung für die Prinzipien der Verfassung, denn diese sind die einzige Garantie für dauerhaften Frieden im Land. Intolleranza 1960 – ein Skandal Eine Oper, die zum Aufruhr gerät. Das passiert nicht oft. Als der 1924 geborene Italiener Luigi Nono – Schwiegersohn des Komponisten Arnold Schönberg – die Oper „Intolleranza 1960“ komponierte, die 1961 im Teatro La Fenice in Venedig zur Uraufführung kam, wurden Stinkbomben geworfen, gab es Pfiffe und Buhrufe, aber auch lautes und deutliches „Bravo!“. Italienische Neofaschisten warfen dem Künstler vor, den Kommunismus zu verherrlichen. Luigi Nono bezeichnete sein Werk als Musiktheater – Bühne und Zuschauerraum wurden einbezogen, das Werk bediente sich der Texte von Brecht, Sartre, Angelo Maria Ripellino, verknüpfte sie mit politischen Parolen, Ausschnitten aus Verhören der Nazis und der französischen Polizei im Algerienkrieg – Agitation, Aufruhr, Anklage. Es geht um einen namenlosen Auswanderer, der in seine Heimat zurückkehrt, unfreiwillig in eine Demonstration gerät, festgenommen und gefoltert wird, in ein Konzentrationslager kommt, flieht, während eine Flutwelle eine Katastrophe auslöst. Flucht, Emigration, Widerstand – das Werk war und blieb lange verfemt. 2021 wurde es bei den Salzburger Festspielen wiederaufgeführt. Seine Aktualität bis heute ließe verzweifeln, wäre da nicht die Kraft, die dem Werk innewohnt. Eine Revolutionsoper, eine Anklage, ein Hoch auf jene, die sich gegen die Verhältnisse auflehnen. Mit „Al gran sole carico d’amore“ schrieb Nono eine weitere Revolutionsoper, in seinem vor 1960 entstandenen Liedzyklus „Il canto sospeso“ vertonte er die in Briefen aufgeschriebene Anklage zum Tode verurteilter Widerstandskämpfer. Solange seine Werke ihre Aktualität nicht verlieren, kann die Welt keine gute sein. kg 20 maldekstra #13Dezember 2021 Wie schafft ihr es, dass euer Theater bei den Menschen ankommt, die ihr erreichen wollt? Wir spielen auf der Straße und behandeln vor allem Themen, die hier im Viertel virulent sind. Wir machen keine Werbung für unsere Aufführungen, aber kaum haben wir angefangen, ist die Straße voller Leute. Wir spielen in Wolof, der meistgesprochenen Sprache im Senegal, Französisch versteht nur eine Minderheit der Bevölkerung. Wir spielen so, wie die Menschen reden, afrikanisch, mit Sprichwörtern und Parabeln. Die Musik zum Stück kommt von hier. Wir haben zum Beispiel den „Arzt wider Willen“ von Molière in Wolof übersetzt und gespielt. Allein die Übersetzung hat uns sechs Monate Zeit gekostet. Das ist hochpolitisch, denn es zeigt, dass unsere nationalen Sprachen ebenso nuanciert und ausdrucksstark sind wie die Sprache Molières. Dass die Sprache der früheren Kolonialmacht heute noch die offizielle Sprache unseres Landes ist, trägt zur Entfremdung eines bedeutenden Teils der Menschen vom Staat bei. Weltliteratur in Wolof auf die Bühne zu bringen ist ein Beitrag zur kulturellen Dekolonisierung. Ein anderer Beitrag ist es, das kulturelle Erbe unseres Landes zu nutzen und zu zeigen, dass es universelle Botschaften vermittelt. Tierno Bokar zum Beispiel, das ist Theologie der Befreiung, gelehrt, als Frankreich sich den heutigen Senegal und Mali kolonial unterwarf. Das Buch „Der Weise von Bandiagara“ von Amadou Hampâté Bâ ist lesenswert. Es geht um das Problem der Religion der Tidschani. Es ist ein exzellentes Buch darüber, wie die Religion zum Mittel der Manipulation und Beherrschung von Menschen werden kann. Dieses Problem ist heute noch schlimmer als zu seiner Zeit. Bokar hat dort gelebt, wo heute die ethnische Gewalt zwischen Peulh und Dogon eskaliert. Er hat beide Ethnien gegen die Kolonialmacht vereint, mit einer Theologie der sozialen Gerechtigkeit. Die Kolonialmacht hat ihn verfolgt und Konflikte zwischen den Ethnien wieder geschürt. Hat die Covid-19-Pandemie Auswirkungen auf eure Arbeit? Die hat uns wirklich hart getroffen. Deshalb konnten wir unser nationales Programm, mit dem wir überall im Land und vor allem im ländlichen Raum spielen wollten, nicht aufführen. Auch unser internationales Programm fand nicht statt, weder das eigene Festival noch die Teilnahme an Festivals im Ausland. Selbst als die Covid-Zahlen abnahmen, haben wir aus Verantwortungsbewusstsein nicht den normalen Spielbetrieb aufgenommen. Wir sind Theaterleute und konnten fast zwei Jahre nicht spielen. Was wir stattdessen gemacht haben: Produktionen im Internet, auf YouTube, Instagram, Facebook. Die haben den Effekt, dass man Publikum erreicht, das auch in normalen Zeiten nicht zu uns kommen kann. Das hat auch was Gutes, kann aber kein Ersatz sein. Jetzt sind die Fallzahlen gering, und unser neues Kulturzentrum, das wir mit Eigenmitteln aufgebaut haben und unterhalten, wird vom ganzen Viertel genutzt. Täglich finden hier Treffen statt, zum Beispiel von Frauengruppen des Viertels, Jugendlichen, Fischer*innen. Herzlichen Dank für das Gespräch. Es war mir ein Vergnügen. Von der Wand in den Mund An Graffiti scheiden sich die Geister. Ist das Vandalismus oder Subversion, Aufschrei oder infantile Zerstörung? Beides möglich. Graffiti gelten längst als Kunstform, urban, spontan, aggressive Botschaft, verzweifelte Ansage, Verfremdung, Zuspitzung. Als im Januar 2011 in Ägypten die Proteste gegen das Regime Hosni Mubaraks begannen, wurde der urbane, öffentliche Raum zur Bühne. Auf Mauern und an Häuserwänden wurde der Unmut gegenüber den Verhältnissen zur Botschaft. „Die vielfältigen Bilder und Inskriptionen der urbanen Straßenkunst reichten von einprägsamen politischen Aufforderungen und Slogans über aufwendige Graffiti-Formen oder repetitive, mit Schablonen gesprayte Symbole und Embleme bis hin zu großformatigen Wandgemälden, die getötete Protestierende oder nationalkulturelle Referenzen abbildeten, politische Akteure diffamierten sowie im Täuschungseffekt eines Trompe-l’œil die von den Sicherheitskräften in den Straßen von Downtown zum Schutz von Regierungsgebäuden errichteten Mauern bildlich auflösten“, heißt es in einem Text der Kunsthistorikerin Judith Bihr über die „Kairoer Kunstlandschaft des öffentlichen Raums nach den politischen Umschwüngen von 2011“. Hatte Mubaraks Regime zuvor die ägyptische Kunstlandschaft instrumentalisiert, glitt ihm in den Revolutionstagen aus den Händen, was sich sowieso nicht domestizieren lässt. Als staatlicher Machtträger fand er sich nun an Wänden und Mauern wieder – nicht verehrt, sondern als Teil einer untergehenden Kaste dargestellt. Dafür steht das Wandgemälde „Diejenigen, welche die Herrschaft übertragen, sind nicht gestorben“ des Künstlers Illi Kalif Ma Matsh. Graffiti sind Wiederaneignung durch Zerstörung der vorherigen Reinheit. Die Grenzen zur Wandmalerei sind fließend, wie der mexikanische Künstler Diego Rivera während der Revolution 1910 bewies. 1980 wurde in Irland ein 16-Jähriger erschossen, als er versuchte, eine Mauer zu bemalen. Ein Polizist hielt den Pinsel in der Hand des Jungen für eine Waffe und hatte auf tödliche Weise recht. Vielleicht ist die Friedenstaube in Bethlehem wirklich von Banksy, einem der gegenwärtig berühmtesten Graffiti-Künstler. Gewiss bleiben die Graffiti in Stencil-Technik an den verlassenen Häusern Tschernobyls lange sichtbares Gedenken an die Opfer des Atomunglücks. „Auf der anderen Seite der Mauer: was das System verursachen kann … Auf der einen Seite: was es nicht verhindern kann!“, steht im brasilianischen São Paulo an der Mauer eines ehemaligen Gefängnisses. Graffiti sind vieles: der sinnfreie Spruch an der Wand des Kneipenklos, die Kulisse für Touristenfotos, der Flashmob und die hübsche Street Art, gefährliche Botschaft und gern genommene Kulisse für Aufsager in Nachrichtenformaten. Als Kunstform ein Hassobjekt der Autokraten und Diktatoren dieser Welt. Für Kommerz und Merchandising missbraucht, wie die Mauermalereien in Berlin. Im besten Fall schreien sie die Ungerechtigkeit und das Elend in die Welt. Wie das Bild von Lolo Góngora am Kulturzentrum Gabriela Mistral (GAM) in Chiles Hauptstadt Santiago mit dem Titel „Der Vergewaltiger bist du“. Die Frau auf dem Bild ist kein Opfer, stattdessen scheint sie dem Betrachter im Moment des Betrachtens in die Fresse springen zu wollen. kg Dezember 2021 maldekstra #1321 Sticken? Ausgerechnet! Die belarussische Künstlerin Rufina Bazlova beweist mit ihren Werken, dass noch jede künstlerische Ausdrucksform geeignet ist, Widerstand zu ermutigen, Symbol zu werden, in die Welt getragen zu werden. Zehntausende gingen und gehen in Belarus, nach gefälschten Wahlen immer noch regiert von dem Autokraten Lukaschenko, auf die Straße. Für Demokratie. Rufina Bazlova schuf aus den Bildern der Massenproteste Stickmuster. Rot auf weißem Grund, das sind auch die Farben der Flagge der Opposition. „Wyschywanka ist das traditionelle belarussische Muster, das schon seit Jahrhunderten auf die Kleidung gestickt wird. Die Stickerei stellt ewige Themen wie die Liebe, die Sonne, oft auch heidnische Symbole dar und diente als besonderer Schutz gegen die Geister“, erklärte die in Tschechien lebende Künstlerin in einem Interview. Die Proteste hätten ihr Hoffnung gemacht, dass sich etwas würde ändern lassen in Belarus. Bazlova steht für eine Generation, die sich nicht in die Vorstellung schicken will, ihr ganzes Leben unter der Herrschaft eines menschenverachtenden Autokraten verbringen zu müssen. Die Stickbilder sind zugleich Code für die Übereinkunft, für Demokratie zu kämpfen, und Symbol eines Widerstands, der unter gefährlichen Bedingungen stattfindet. kg 22 maldekstra #13Dezember 2021 Playlist Kunst und Widerstand Der Maldekstra-Mix – 25 Tracks zur Dekolonialisierung des Planeten Globalista Radio Kit (GRK) ist ein strategisches Gemeinschafts- und Medienprojekt, das von der Gruppe XLterrestrials (XLT, Alien-Kunst und -Praxis) initiiert wurde. Wir begannen mit dem Streaming von „Radio-Shows“, nachdem die jüngste (pandemische) Krise ihren Lauf nahm. Den Preis dafür zahlten auch soziale Treffpunkte, Cafés, Orte selbstgemachter Subkultur in Berlin – kurz: unsere Existenzgrundlagen im Kiez. Lauter Orte, die sich sowieso schon im Belagerungszustand durch die Hyperindustrialisierung des Lebens befanden, also neoliberalen Ka(ck)pitalismus, Gentrifizierung, Techno-Kolonialismus, kybernetisch induzierte Anämie und antisoziale Vermittlungsversuche der Großkonzerne. Unser Ziel ist das Gegenteil von Rückzug, Isolierung und Einhegung. Unsere „Radiostation“ reicht allen Nachbar*innen und Genoss*innen – ob nah oder fern – die Hand, um überlebenswichtige Verbindungen, Kommunikation, öffentliche Ressourcen und Orte lebendig zu halten – unter allen Umständen und auf welcher Plattform auch immer! Zurzeit sind wir zu Gast in der Regenbogenfabrik, einem lebhaften und wachsamen Kollektiv, das inmitten einer gefährlichen Kombination mehrerer Stürme einen ressourcenreichen Hafen bietet. Wir senden unsere Kiez-Programme aus dem Regenbogen-Café, wo ihr uns, die notwendigen Schutzmaßnahmen vorausgesetzt, jeden Freitagabend ab 19 Uhr besuchen könnt. Auf dass unsere Füße geerdet bleiben bei den Grenzverletzungen und unsere Herzen und Köpfe Teil der intergalaktischen Commons! Diese Playlist wurde zusammengestellt von DJ Podinski und XLTs, mit Unterstützung unserer Schwesterstation Radio Cósmica Libre (RCL) in Mexiko. Weil wir versuchen, Links zu kommerziellen Unternehmen zu vermeiden, sind die meisten Titel über „Bandcamp“ zu bekommen. Das ist einer der einfachsten Wege, Musik direkt von den Künstler*innen zu kaufen – unterstützt sie, wenn ihr könnt! http://www.regenbogenfabrik.de/ Mehr Infos zu Globalista Radio Kit: https://pads.ccc.de/grk RCL: https://www.mixcloud.com/RadioCosmicaLibre/ XLT: https://xlterrestrials.netlify.app/posts/ (hier wird es demnächst auch eine Langversion dieser Playlist geben) Mafalda feat. Rebeca Lane: Las que faltaron https://luchaamada.bandcamp.com/track/mafalda-ft-rebeca-lanelas-que-faltaron Tremenda Jauría feat. Ecologistas en Acción: Que cambie el sistema https://luchaamada.bandcamp.com/track/tremenda-jaur-a-featecologistas-en-acci-n-que-cambie-el-sistema) Mal Élevé: Illimité https://luchaamada.bandcamp.com/track/mal-lev-illimit Alle aus: Lucha Amada 3 – A Luta Continua (2021), eine BenefizCompilation für die Zapatistas und Rojava IR – Sankara Future Dub Resurgence: When Visions Fall From Sky https://syrphe.bandcamp.com/track/when-visions-fall-from-sky Aus: Syrphe/Cedrik Fermont: Civil Disobedience (2021), eine BenefizCompilation für Myanmar IR – Indigenous Resistance: Anarchist Africa https://dubreality.bandcamp.com/track/anarchist-africa-3 Aus: IR60 Indigenous and Black WisDub: A Soundbook and Soundtrack for Critical and Creative Resistance (2021) Geigerzähler feat. Nick Ronin: Der Zeitstrahl ist zerbrochen http://geigerzaehler.blogsport.de/2021/10/23/der-zeitstrahl-istzerbrochen-2/ Aus dem neuen Album „Der Zeitstrahl ist zerbrochen“ (Nov. 2021) Pisse: CO2 Bilanz https://pisse.bandcamp.com/track/co2-bilanz Aus: LP (2020) Lena Stoehrfaktor: Blick (2020) https://lenastoehrfaktor.bandcamp.com/track/blick WWW Neurobeat: Stát https://bandzone.cz/wwwneurobeat Aus: Neutopíš se dvakrát v téže řece (2018) Run The Jewels: Walking In The Snow https://www.youtube.com/watch?v=bd7fb5oQhVg Aus: RTJ4 (2020) Gang Of Four: What We All Want https://www.youtube.com/watch?v=BLat52NBpuA Aus: Box Set (2021) Pop Group: Words Disobey Me (Dennis Bovell Dub Version) https://www.thepopgroup.net/ Aus: Y in Dub – remixed (1979/2021) Monsieur Doumani feat. Martha Frintzila: Thamata https://monsieurdoumani.bandcamp.com/track/thamata-featmartha-frintzila Aus: Pissourin (2021) Lakvar: Sabotage https://lakvar.bandcamp.com/track/sabotage-trad-rom-hung Aus: Sabotage and Tradition (2020) King Somalie (Rafael Machuca): Monkey’s Dance https://analogafrica.bandcamp.com/track/monkey-s-dance Aus: La Locura de Machuca 1975–1980 (2020) La Voz Nativa: Piña Piraña https://lavoznativa.bandcamp.com/track/pi-a-pira-a Aus: Fértil Fiera (2021) 47Soul feat. Shadia Mansour x Fedzilla: Border Ctrl https://47soul.bandcamp.com/track/border-ctrl Aus: Semitics (2020) KingL Man feat. Sidi I. B: Can I Sing With You? https://kinglman.bandcamp.com/track/can-i-sing-with-you-featsidi-i-b Station 17: Feeger https://station17.bandcamp.com/album/werkschau Aus: Werkschau (2019) KingL Man con Ibrahima El Latigazo, Sidi I. B. y Mame Samba: No Hay Pescado (Las Raíces) https://kinglman.bandcamp.com/track/no-hay-pescado-las-ra-cescon-ibrahima-el-latigazo-sidi-i-b-y-mame-samba Beide aus: Headonix (2021) Pastor Leumund: Druckwellensittiche (Patric Catani Remix) https://pastorleumund.bandcamp.com/track/druckwellensittichepatric-catani-remix Aus: Konzentriert euch – Remixe (2021) DJ Dolores feat. Nêgo Freeza & Catarina de Jah: Exú Ciborgue https://djdolores.bandcamp.com/track/ex-ciborgue-feat-n-gofreeza-catarina-de-jah Aus: Recife 19 (2019) The Last Poets: How Many Bullets Aus: Understand What Black Is (2018) Siekiera: Nowa Aleksandria https://mannequinrecords.bandcamp.com/album/mnq-118-siekieranowa-aleksandria Aus: Nowa Aleksandria (1986/2018) The Incredible Herrengedeck: A.C.A.B. https://herrengedeck.bandcamp.com/track/a-c-a-b Aus: Molli & Korn (2018) Dezember 2021 maldekstra #1323 Kampf um faire Vergütung Gemeinsam verhandeln wir, geteilt betteln wir! Kongress der Kunst- und Kulturarbeiter*innen in Zagreb Von Domagoj Kučinić Schon vor der Covid-19-Pandemie destabilisierten neoliberale Eingriffe die Kultur stark. Die projektbezogene Kunstproduktion trug nicht zur versprochenen „Dezentralisierung“ oder „Demokratisierung“ der Kultur bei, sondern erhöhte vielmehr „die Unsicherheit, das Armutsrisiko und die zunehmende Ausbeutung“ von Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen. Aufgrund des gesteigerten Bedarfs an politischer Organisation hielt das Kollektiv BLOK (Lokale Basis für kulturelle Erneuerung) Anfang Juli in Zagreb den Kongress der Kunstund Kulturarbeiter*innen ab. Dort kamen verschiedene Initiativen, Berufsverbände und Gewerkschaften zusammen, um sich über ihre Erfahrungen, Forderungen und Organisationsformen im Kampf für bessere Arbeitsbedingungen im Kultursektor auszutauschen. Den Kongress eröffneten Vertreter*innen des Berufsverbandes Bildender Künstler*innen Berlin (bbk berlin), der IG Kultur Österreich, der New Yorker Organisation „Working Artists and the Greater Economy“ (W.A.G.E.) und von Za K.R.U.H. (Für BROT) Kroatien. Bei den meisten Initiativen begann der Kampf um eine faire Vergütung mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Kulturinstitutionen und prekären Künstler*innen oder Kulturarbeiter*innen. So trug der bbk berlin zum „Berliner Modell“ für die Künstler*innenhonorierung bei. Danach erhalten die kommunalen Galerien Berlins Mittel aus einem Sonderfonds des Landeshaushalts, um Mindestausstellungshonorare zu zahlen, die von 100 Euro für Gruppenausstellungen mit besonders vielen Künstler*innen bis hin zu 1.500 Euro für Einzelausstellungen reichen. Eine ähnliche Kampagne, „Fair Pay für Kulturarbeit“, hatte vor zehn Jahren die IG Kultur Österreich gestartet, eine bundesweite kulturpolitische Interessenvertretung, die sich mit der Einflussnahme auf (kultur-)politischer Ebene, der Beratung und Weiterbildung von Kulturarbeiter*innen sowie der Produktion, Aneignung und Distribution von Wissen befasst. Auf der anderen Seite des Atlantiks versucht W.A.G.E., Künstler*innen und die Institutionen, die ihre Arbeit nutzen, in nachhaltige ökonomische Beziehungen zu bringen. Als Ergebnis ihrer Bemühungen kann die Initiative den Mindestvergütungsstandard vorweisen, der durch eine Selbstregulierung der Branche und die nationale W.A.G.E.-Zertifizierung entstanden ist. Gemeinnützige Kunstorganisationen können sich zertifizieren lassen, wenn sie Künstler*innen für längere Zeit freiwillig Mindesthonorare zahlen und sich aktiv zu diesen Standards bekennen. Die jüngste Organisation, Za K.R.U.H., die seit der Pandemie für bessere Arbeitsbedingungen im Kulturbereich kämpft, versucht ein „Protokoll für die faire Vergütung künstlerischer und kultureller Arbeit“ zu erreichen, das hoffentlich zu einer nachhaltigen staatlichen Kulturförderung in Kroatien führt. Am zweiten Kongresstag wurden verschiedene Modelle zur Selbstorganisation vorgestellt. Die Art Workers Italia (Kunstarbeiter*innen Italien, AWI) und die Σ.Ε.ΧΩ.ΧΟ – Greek Union of Dance Workers (Griechische Gewerkschaft der Tanzarbeiter*innen) sind in Ländern aktiv, in denen es, wie in vielen Balkanstaaten, keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt. Sie sprachen über ihre Strategien und Schwierigkeiten bei der Organisation von Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen. Während sich AWI auf die Zusammenarbeit mit Expert*innen konzentriert, um ethische, vertragliche und gesetzliche Möglichkeiten zum Schutz der Kunstarbeiter*innen auszu- schöpfen, organisiert Σ.Ε.ΧΩ.ΧΟ politische Protestaktionen und versucht, alle am künstlerischen Produktionsprozess Beteiligten aufzuklären. Der Designers + Cultural Workers Sector (Sektor der Designer*innen und Kulturarbeiter*innen) der Gewerkschaft United Voices of the World (Vereinte Stimmen der Welt) aus Großbritannien bietet seinen Mitgliedern nicht nur politische Bildung, sondern unterstützt auch die prekären, schlecht bezahlten Arbeiter*innen, die am wenigsten Schutz genießen. Er versucht, den Begriff der Kulturarbeiter*innen näher zu definieren: Dazu gehören demnach alle, die am Prozess der Kulturproduktion teilnehmen, von Künstler*innen und Kurator*innen bis hin zu Techniker*innen und Reinigungskräften. Der Verband der Bildenden Künstler*innen Serbiens (ULUS) fördert und schützt die Arbeitsund Berufsrechte sowie die Interessen der bildenden Künstler*innen. In der Pandemie konnte er für die schwächsten Künstler*innen, deren Beschäftigungsverhältnisse nicht anerkannt oder undefiniert waren, einen Solidaritätsfonds einrichten. Auf dem Kongress zeigte sich, wie wichtig politische Bildung und gewerkschaftliche Organisation für die Schaffung besserer Arbeitsbedingungen im Kultursektor sind. Das Motto des Kongresses lautete: Gemeinsam verhandeln wir, geteilt betteln wir! Kultur- und Kunstarbeiter*innen brennen darauf, sich besser zu organisieren und ihre Arbeiter*innenrechte zu verteidigen. Domagoj Kučinić hat an der Musikakademie in Zagreb Musikwissenschaft studiert. Zurzeit ist er Teil des Teams „Küche der Vielfalt“ in der kroatischen Stadt Rijeka – Kulturhauptstadt Europas 2020. Rotes Licht „Sie sind nicht mehr da, denn sie wollten sein“ (Ivan Goran Kovačić). Sie war der größte antifaschistische Volksaufstand: die jugoslawische Partisanenbewegung, zu der auch 100.000 Frauen gehörten. An drei Fronten kämpften die Partisan*innen gegen die deutschen, italienischen Besatzer und gegen einheimische Kollaborateure. Für eine soziale Revolution, für ein anderes Leben. Gemeinsam mit dem in Zagreb lebenden Autor und Fotografen Davor Konjikušić veröffentlichte das Belgrader Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung ein Buch zur Fotografie der Partisanen, das im September 2021 in deutscher Übersetzung beim Deutschen Kunstverlag erschienen ist. Kunst hatte für ein gemeinsames, übernationales Narrativ der Widerstandsbewegung große Bedeutung. Kunstschaffende und Ama- teur*innen beteiligten sich daran – in der doppelten Rolle der Widerständigen und zugleich Kunstschaffenden. Es ist ein Buch über Solidarität und Antifaschismus und über die Organisation einer Bewegung der Befreiung in dunkelster Zeit. Mehr als ein Zeitzeugnis, denn es leistete bei Erscheinen in serbokroatischer Sprache einen wichtigen Beitrag gegen Geschichtsrevisionismus, indem es von einer Massenbewegung erzählt, die eine soziale Bewegung war. Ein Online-Dossier zum Buch zeigt Fotografien und veröffentlichte ein Essay des Autors. Lesenswert, sehenswert, berührend. kg Rotes Licht. Jugoslawische Partisanenfotografie und soziale Bewegung, 1941–1945, Deutscher Kunstverlag 2021. www.rosalux.de

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