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Von Bürgern und Kindern

Full text: Sittengeschichte Berlins / Ostwald, Hans (Public Domain)

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die jungen Maͤdchen bekamen Reitunterricht 
und wurden etwas weniger mit wissenschaft— 
licher Buͤrde bepackt. Heute ist das ja wesent— 
lich anders. Geturnt wird uͤberall. Und wo 
ein Bauplatz in Berlin W. frei ist, entsteht ein 
Tennisplatz. Das Radfahren ist ja nicht mehr 
so ganz schick fuͤr die jungen Maͤdchen, die 
zwischen der Kindheit und der Ballfaͤhigkeit 
stehen. Aber Rollschuhlaufen auf dem Asphalt 
— ja, das macht noch vielen solchen Back— 
fischen Spaß. Auch im Eispalast tummeln sie 
sich — und ein Maͤdchen, das nicht Schlitt⸗ 
schuh laufen kann, gibt es schon gar nicht 
mehr in Berlin. Gegen diese gesunde Be— 
wegung hat heute kein Mensch ein Wort zu 
sagen. Überhaupt genießt die Zukunft Ber— 
lins recht große Freiheiten. Manche gar zu 
viel. Das Wandeln im Korso der Kleiststraße, 
das Beaͤugen der maͤnnlichen und weib— 
lichen Moden, das Besuchen der Erfrischungs— 
raͤume der Warenhaͤuser — mal mit Notenrolle oder Buͤchermappe, mal 
ohne jede Last, dies Sitzen zwischen zudringlichen Halbwuͤchsigen und 
starrenden aͤlteren Herren ist nicht gerade gut. Manche Familien nehmen 
die Halbfluͤggen sogar bis in die Nacht hinein in Kaffeehaͤuser mit, wo sie 
dann das Berliner Nachtleben an der Quelle studieren koͤnnen. 
Es ist nur gut, daß die meisten Maͤdchen trotzdem noch kindlich bleiben 
und mit kindlicher Anhaͤnglichkeit die Mutter verehren und, trotz allzu großer 
Sicherheit, nie die Wohlerzogenheit verlieren. Die hoͤhere Tochter hat sich 
ein wenig entwickelt. — 
Die Stadt, die den Erwachsenen eine verschwenderische Fuͤlle von 
Kulturguͤtern und Bildungsmoͤglichkeiten bietet, in deren Mauern Kunst, 
Politik, Theater, Wissenschaft nud noch viele andere Gebiete des modernen 
Lebens taͤglich so viel Genuͤsse bereithalten, daß ein einzelner nur einen Bruch— 
teil genießen und bewaͤltigen kann — diese Stadt ist oft hart und geizig, lieblos 
und unmuͤtterlich gegen die jungen menschlichen Geschoͤpfe, die ihr an— 
vertraut werden. Was fuͤr eine traurige Kindheit verleben die Massen der 
Großstadtkinder! Kaum kann man es noch eine Kindheit nennen. Die Wagen 
und Klingelzeichen der elektrischen Straßenbahnen und das Toͤfftoͤff der 
Autos spielen eine groͤßere Rolle in ihrem Leben und in ihrer Phant asie als 
etwa das Leben unserer Haustiere. Von dem Pflegen und Gedeihen der
	        
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