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Die Großen waren nicht minder uͤberrascht
wie die Kleinen. Das war die Zeit der
Reaktion, als die Beamtenfamilien und auch
manche anderen Kreise wieder pietistisch ge—
worden waren. Von den Kindern wurde
eine uͤbermaͤßige Ehrfurcht verlangt. Jene
Kameradschaftlichkeit, die heute soviel Eltern
und Kinder begluͤckt, gab es nicht.
Im Leben der Schulmaͤdchen spielte
fruͤher der Lumpenmatz eine wichtige Rolle.
Er zog mit einem Hundekarren durch die
stillen Straßen und meldete sich mit einem
pfiff an. Dann bettelten sich die Kleinen
von der Mutter Lappen und Flicken zu—
sammen und liefen an den Wagen des
Lumpensammlers, der Stecknadeln oder un—
echte Ringe, die mit bunten Glassteinen
prahlten, da—
fuͤr gab.
Waren die
Maͤdchen groͤßer, so kamen sie wohl zum
Kgl. Taͤnzer Thuͤrnagel am Gensdarmen—
markt, wo bei der Musik eines Geigers ernst⸗
haft die Figuren geuͤbt wurden. Wer schon
ein wenig das Tanzbein schwingen konnte,
wurde aufgefordert, bei „Großer Musik“ zu
tanzen. Ein kleines Orchester spielte den
im Sonntagsstaat sich spreizenden kleinen
Koketten und ihren Kavalieren auf — die
sich auf solche Weise fuͤr ihre Teilnahme an
den großen Baͤllen vorbereiteten, zu denen
damals* die Juristen-, Architekten-, Stu—
denten- und Waterlandsbaͤlle gerechnet
wurden. Die Vaterlandsbaͤlle wurden fast
nur von Offiziersfamilien besucht. Fast alle
Baͤlle begannen schon um 7 Uhr nnd die in
billigen aber duftigen Mullkleidern gehuͤllten
zjungen Maͤdchen wurden mit großen zwei—
1
* Ich berichte hier nach dem Werk von Agathe Nalli-Rutenberg: Mein liebes, altes Berlin!.
das im Verlaag Continent erschienen ist.