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Von Bürgern und Kindern

Full text: Sittengeschichte Berlins / Ostwald, Hans (Public Domain)

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Sonst „haben sie ja gar nichts vom Leben!“ 
Im Winter fuͤllen sie die Theater, Konzerte 
und vor allem die Kaffeehaͤuser. Im Sommer 
bevoͤlkern sie die Terrassen am Halensee, diese 
geschmacklose Anhaͤufung von Lokalen — und 
den Zoologischen Garten. Hochstetter zeich— 
nete diese Art sehr lustig im Boͤrsen-Courier: 
„Neun Uhr. Die elegante Frau Milly 
haͤlt soeben an der Seite des Gatten ihren 
Einzug durch das Elefantenportal. Das neue 
Kleid ist heute vom Schneider gekommen. 
Die Zeit von sechs bis jetzt hat sie damit ver— 
bracht, es anzuziehen. Ihre ganze Ruͤckseite ist 
gespickt mit Stecknadeln — vom Hals bis herab 
zu den Kniekehlen; wenn sie sich hinsetzt und 
nicht kolossal dabei aufpaßt, piekt es. Eben 
im Auto hat es furchtbar gepiekt, aber was 
ertraͤgt eine elegante Frau nicht einem neuen 
Kleide zuliebe? Nun hat es ausgepiekt. Stolz 
schreitet die schlanke Frau Milly durch das Ele— 
fantenportal und malt sich im Geiste die Blicke 
aus, mit denen das neue Kleid jetzt in der 
Laͤsterallee durchbohrt werden wird: die Blicke 
des Neides — aus den Augen der schlechtangezogenen Damen; die Blicke 
des Hasses — aus den Augen der gutangezogenen Damen; die Blicke der 
Bewunderung — aus den Augen der Herren.“ 
Die gleichen Damen bevoͤlkern auch abends die neueste Berlinische 
Promenade. Zwischen Warenhaus und Gotteshaus pendelt es abends 
von 6 und 8 in der Tauentzienstraße hin und her: Reife Frauen in 
maͤdchenhaften Kleidern, junge Maͤdchen in fraulichen Kostuͤmen — heraus— 
fordernde Blicke, kecke Sehnsucht, laͤssiges Schlendern, interessante, kluge 
Augen — aber auch viel Oberflaͤchlichkeit. 
Solch ein Bummel am Spaͤtnachmittag, wenn die maͤrkische Sonne 
ihren letzten Schimmer zwischen die grauen Haͤuserreihen gießt und wenn aus 
den kolossalen Schaufenstern der vornehmen Kaufhaͤuser und den Reihen der 
Auslagen goldig und silbern strahlendes Licht stroͤmt, ist das Schoͤnste, was 
Berlin bietet. Die Haͤßlichkeiten der großen Stadt mit ihren abgezirkelten, 
geraden Straßen tauchen dann unter in ein Lichtmeer. Die ruhelosen 
Perspektiven werden von Flammen, Lichtkugeln, Strahlenkraͤnzen und Glanz⸗ 
haͤchen erfuͤllt. Und die Schoͤnheit der großen Stadt erwacht und spiegelt sich
	        
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