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Von Bürgern und Kindern

Full text: Sittengeschichte Berlins / Ostwald, Hans (Public Domain)

und Freude wie der Dienst einer Gottheit gepflegt, von schlicht buͤrgerlichem 
CTharakter, ist lediglich nur in den oͤffentlichen Naturen zu finden und hat 
dadurch seine Originalitaͤt und seine keuschere Bedeutung verloren. 
Selbst wenn der alte kleinstaͤdtische Berliner eines der drei oͤffentlichen 
Theater besuchte, geschah es mit großer Wuͤrde und mit Scheu vor der hoͤheren 
Kunst, die hier entfaltet werden konnte. Daher ward auch ein solcher Theater— 
abend in der Familie fuͤr eine Art Fest angesehen, und ein Buͤrger aus den 
wohlhabenderen Mittelklassen verschaffte sich und seiner Frau hoͤchstens alle 
Monat einmal solchen Genuß; die erwachsene Tochter kam selten mehr als 
zweimal im Jahre in den Tempel der Kunst.“ 
Die Seltenheit des Theaterbesuches und aͤhnlicher anregender Bil— 
dungsmoͤglichkeiten bedingte nicht, daß die jungen Maͤdchen keine Ge— 
legenheit zur geistigen Entwicklung hatten. Einige junge Maͤdchen wußten 
sich im Vormaͤrz trotz der mangelhaften Schulen eine ziemlich gute Bildung 
anzueignen. Wenn sie einen echten Lerntrieb hatten, konnten sie von diesem 
und jenem aus dem Bekanntenkreise gute gediegene Kenntnisse erwerben. 
Jettchen Eichmann, die im Nicolaischen Hause lebte, hatte sich schon fruͤh mit 
dem Franzoͤsischen und Italienischen bekannt gemacht; als sich einmal die 
Aussicht zeigte, mit einer verwandten Familie nach England zu reisen, lernte 
sie noch geschwind das Englische. Von einem jungen Dozenten, der in ihrem 
paͤterlichen Hause verkehrte, hatte sie sich in Physik und Chemie unterrichten 
lassen. Von einem Professor ließ sie sich in die Mineralogie einfuͤhren und 
von anderen Gaͤsten des Nicolaischen Hauses lernte sie Botanik. Auch konnte 
sie gut die Violine spielen, auf dem Klavier leichtere Sachen wiedergeben 
ind gar nicht schlecht zeichnen. Dabei war sie doch kein Blaustrumpf, sondern 
in allen weiblichen Arbeiten so geschickt und 
erfahren wie in Sprachen und Wissenschaften. 
Sie fuͤhrte die feinsten Stickereien aus und ver— 
schmaͤhte es nicht, Staubtuͤcher fuͤr die Kuͤche 
zu stopfen. Nicht zufrieden damit, ihre eigene 
Waͤsche und die ihrer Eltern auf das sauberste 
zu naͤhen (ohne Maschine!), kam sie auf 
den barocken Einfall, sich ihre Stiefel selbst zu 
verfertigen. Sie schaffte sich alles noͤtige Hand— 
werkszeug an und nahm foͤrmlich Unterricht bei 
einem anstaͤndigen Damenschuhmacher. Bald 
konnte sie auf selbstgearbeiteten Sommerschuhen 
gehen und ihrer Nichte rotseidene Tanzschuhe 
schenken, die auf mehr als auf einem Balle 
glaͤnzten. Aber eins konnte auch sie nicht, 
Hosemann 1860: Am Fenster.
	        
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