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Kleinbürgertum und Proletariat

Full text: Sittengeschichte Berlins / Ostwald, Hans (Public Domain)

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Nun fliegen auch die eingewickelten Honorare herunter. In der Naͤhstube 
wird gesammelt. Der Tischler wirft den letzten Groschen hinaus, heute ist ja 
Sonnabend! Die Musik macht allen das Herz leicht.... 
Der Alte gibt noch eine forsche Polka zu. Die kleinen Maͤdels, die um 
ihn herumstehen — sie gehen noch nicht mal in die Schule — wiegen sich erst 
unwillkuͤrlich inm Takt. Dann mit einem Male wirbeln die kleinen Dinger 
— 
Ihre Roͤcke flattern auch zu dem Grammophon, das ein Mann spielen 
laͤßt, der zugleich mit Armen und Beinen noch Pauke, Schelle und Trommel 
schlaͤgt. Solch sonderbarer Musiker wird auch oft zu den Hoffesten gebeten, 
die in vielen Haͤusern der Arbeiterviertel an einem Sommersonntag die 
ganze Kinderwelt und die lieben Eltern eines Hauses an langen Kaffeetafeln 
auf dem Hofe versammeln. Von Ecke zu Ecke der grauen Mauern ziehen sich 
bunte Papiergirlanden. Nach dem Kaffee wird getanzt. Und beim Glase 
Bier finden sich die einzelnen Glieder der Mietskasernenfamilie, die sonst oft 
stolz aneinander vorbeigehen. Die Ladenlady's und Buchhalterinnen, die 
Naͤherinnen und Plaͤtterinnen haben fast nie gern was mit Fabrikmaͤdchen 
zu tun gehabt und die ihnen oft sozial Gleichgestellten aller Art fuͤhlten sich 
immer erhaben uͤber alle, die mit der Haͤnde Arbeit sich ernaͤhrten. Bei den 
Frauen spielt die liebe Eitelkeit auch hier eine Rolle und bruͤstet sich im 
Standesunterschied. Allerdings hat auch das seine Gruͤnde. Viele der jugend— 
lichen Arbeiterinnen der großen Waͤschefabriken, der Buchbindereien, Luxus— 
papier-⸗, Telefonapparatfabriken, der Spinnereien und Webereien, der 
Elektrizitaͤtsbranche und der Gluͤhstrumpfwerkstaͤtten haben ja auch ihre 
wenig verfeinerten Eigenschaften. Die Maͤdchen, die sich mittags in den oͤst— 
lichen Fabrikvierteln in ihren schmierigen Arbeitskitteln mit ihrem Kaffeetopf 
auf den Straßen herumdruͤcken muͤssen, wollen sie ein wenig frische Luft 
schnappen, treiben sich abends und Sonntags auf den Rummelplaͤtzen herum. 
Auf unbebauten Plaͤtzen ist der alte Jahrmarksklimbim aufgebaut, mit 
Karussells, Dampfschaukeln, Wuͤrfelbuden, Ballwerfen, Schießbuden und 
Lotterien. Überall spielt ein Leierkasten, wird getutet, geblasen, gebruͤllt. Ein 
ohrenbetaͤubender, sinnverwirrender Laͤrm, ein wirres, wildes Durcheinander 
von Halbwuͤchsigen zwischen dem billigen blinkenden Flitterkram. Hier 
amuͤsiert sih das Stammpublikum der „Kientoͤppe“, der Kinematographen⸗— 
theater, die zu Hunderten in Groß-Berlin zu finden sind. Die Besucher er— 
freuen sich manchmal an guten und belehrenden Vorfuͤhrungen. Am meisten 
aber gefaͤllt ihnen doch das pikante franzoͤsische Genre und die blutruͤnstige, 
verlogene und sentimentale Mordgeschichte, die unter Klavierbegleitung von 
einem „Konferencier“ sehr dramatisch erlaͤutert wird. Die geistig arme Masse 
des Großstadtproletariats und des Kleinbürgertums braucht diese neue Art
	        
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