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Kleinbürgertum und Proletariat

Full text: Sittengeschichte Berlins / Ostwald, Hans (Public Domain)

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Sie wohnen oft genug auf den Berliner 
Hoͤfen. Die haben ihr eigenes Leben. Am 
buntesten ist es bei der „Hofmusik“. 
Ein Berliner Hof: Glatte, hellgetuͤnchte 
Mauern mit regelmaͤßig uͤbereinander hin— 
laufenden Fensterreihen schließen ein Viereck 
ein. Nur an der hinteren Seite ist ein Spalt, 
der unten auch noch durch kleine Schuppen 
abgeschlossen wird. Daruͤber hinweg geht 
der Blick in eine ganze Reihe gleicher, von 
glatten, hellgetuͤnchten Mauern umschlossener 
Hoͤfe. 
Es ist Vormittag. Hoch oben woͤlbt sich 
der lichte, graublaue Himmel. Die Fenster 
sind alle geoͤffnet. Doch klingt kein Laut, 
keine Stimme heraus. Es ist, wie wenn das 
Haus unbewohnt waͤre. Nur an dem einen 
Kuͤchenfenster schnitzelt eine Frau gruͤne 
Bohnen. Von den anderen Hoͤfen her dringt 
das schrille Surren einer Dampfmaschine. 
Und von der Geschaͤftigkeit der Straßen und 
Fabriken zittert hier noch ein verworrenes Brausen. 
Ein altes Maͤnnchen druͤckt sich durch die große Tuͤr. Ganz leise schleicht 
er uͤber den Asphalt bis an den Holzklotz. Den staͤubt er vorsichtig ab und setzt 
sich. Erst nimmt er die lappige Muͤtze ab und trocknet den Schweiß von dem 
kahlen Schaͤdel und dem mit Haar uͤberwucherten Gesicht. Dann sieht er an den 
Mauern hoch, forschend, abschaͤtzend. Hm, hm! das kann heute, am Sonnabend 
Vormittag, eine schlechte Sache werden. Bedaͤchtig nimmt er einen schwarzen 
Packen hoch, den er neben sich gestellt hatte. Seine krummen, steifen Finger 
zittern; langsam schnuͤren sie den Packen auf. Vorsichtig wird die schwarze 
Huͤlle abgestreift. Etwas Buntes, Glitzerndes kommt heraus. Der Alte 
fingert daran herum — — „Drunten im Unterland, da ist's halt fein!“ Er 
singt mit duͤnner, muͤder Stimme zu den Toͤnen seiner Harmonika. 
An den Fenstern wird's jetzt lebendig. Überall recken sich Koͤpfe heraus. 
Aus den Kuͤchenfenstern der Vorderwohnungen, eins uͤber dem andern, 
die Dienstmaͤdchen. Hinten Frauen und Kinder, nur mit dem noͤtigsten 
bekleidet. Oben ein ganzes Buͤndel Maͤdchenkoͤpfe aus einer Naͤhstube. Unten 
beim Tischler, pfeift der Geselle: „Mein Herz, das ist ein Bienenhaus.“ 
Alle singen mit: „Ich bete an die Macht der Liebe.“ Man ist uͤberall still und 
lauscht andaͤchtig.
	        
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