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resoluter Charakter gerade hier Maͤnner in
guter Position, die den Weg zum Standes—
amt mit Vergnuͤgen antreten.
Als Hausfrau aber prangt die Berliner
Arbeiterin mit vielen Tugenden: Ihre Woh—
nung — das wenigstens ist die Regel — ist
stets sauber, ihre Kinder sind adrett, ihr
—WuV—
die Verhaͤltnisse erlauben, sie verdient
nebenbei immer noch mit, draͤngt sich nie
den Nachbarn auf, laͤßt jeden nach seiner
Fasson selig werden, laͤßt jedem die per—
soͤnliche Freiheit und ist doch hilfsbereit —
aber eben nie aufdringlich, sondern nur,
wenn es gewuͤnscht wird. Sie hat ihr Herz
auf dem rechten Fleck.
Gerade in der Arbeiterin kommen die guten Eigenschaften
der Berlinerin zum Vorschein. Die Berliner Arbeiterin weiß sich fast stets
mit großem Geschick der gebotenen Lebenslage anzupassen und zieht auch
aus der bedraͤngtesten Situation ein Stuͤck Lebensfreude. Und wer da weiß,
wie truͤb nur allzu oft die Lage der Arbeiterinnen ist, der wird ermessen
koͤnnen, welch ein Heroismus fuͤr viele von ihnen dazu gehoͤrt, sich dieses
Stuͤckchen Lebensfreude zu bewahren.
Unermuͤdlich und schwer muͤssen sie arbeiten, und oft genug besteht bei
der schweren Arbeit ihr warmes Mittagbrot nur aus Kaffeewasser und trok—
kenem Brot. Doch sie finden sich damit ab und helfen sich mit einem schlag—
fertigen Witzwort uͤber die knappe Zeit hinweg: „Na — da jibt's wenichstens
keene Fettflecke im Magen!“
Hier finden sich unzaͤhlige Gestalten, wie diese: UÜber die Bruͤcke ziehen
die Arbeiter zum Mittag. Sie gehen eilig. Keiner von ihnen sieht uͤber die
Bruͤstung auf den Fluß, an dessen schmutzigen Fluten lange, klotzige Speicher
und schwarzgeraͤucherte Fabriken emporragen, wie wenn sie den niedrigen,
grauen Himmel stuͤtzen sollten.
Ploͤtzlich stockt der vorwaͤrts hastende Menschenzug vor einer Frau, die
einen kleinen Wagen zieht. Sie geht vornuͤbergebeugt. Es wird ihr schwer,
die Bruͤckensteigung hinaufzukommen. Doch Schritt fuͤr Schritt draͤngt sie
vorwaͤrts.
Auf dem Wagen hockt ein alter Mann. Sein Oberkoͤrper ist ruͤstig und
frisch. Aber die Beine sind verkuͤmmert. Vor mehr als zwanzig Jahren
geriet der Mann mit den Fuͤßen in eine Maschine. Seitdem hat ihn seine
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