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Kleinbürgertum und Proletariat

Full text: Sittengeschichte Berlins / Ostwald, Hans (Public Domain)

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wo sich das Volk ein wenig entlastet fuͤhlt. Koͤnnte auch das Geld, das in 
den Kneipen ausgegeben wird, mancher Familie eine bessere Wohnung ver— 
schaffen — die Zeit zieht alle Schichten mit. Kaum eine Frau wird deswegen 
ihre Pflichten versaͤumen. 
Die Frau im Volk hat stets ihre ganze Kraft aufgewendet, um die 
Familie nicht untergehen zu lassen. Leixner berichtet von einem typischen 
Fall: Der Mann war gut bezahlter Vorarbeiter in einer Fabrik, verfiel aber 
durch Trunksucht. Die Tochter, ein Fabrikmaͤdchen von sechzehn Jahren, war 
schon fruͤh ohne Schuld verdorben; ein zwoͤlfjaͤhriger Knabe litt an begin— 
nender Schwindsucht und außerdem war noch ein einjaͤhriges Knaͤblein vor— 
handen. Die Familie hauste in einer Kellerwohnung, die Mutter mit dem 
Kleinsten in der Kuͤche, die andern alle in dem Zimmer, in dem auch noch 
ein Schlafbursche untergebracht war. Die Familienmitglieder schliefen auf 
alten Strohsaͤcken und Matratzen, richtige Moͤbel waren nicht mehr vor— 
handen. Trotzdem muͤhte sich die schwaͤchliche Frau, den Untergang auf— 
zuhalten. 
Selten wird sich eine Berlinerin ganz aufgeben. In den Zeiten nach 
den Gruͤnderjahren, als schnell Reichgewordene ploͤtzlich verarmten und 
mancher Mann rauh und brutal zu seiner Familie wurde, kam es wohl vor, 
daß eine Mutter mit ihren Kindern ins Wasser ging. Max Klinger hat 
eine solche Tragoͤdie auf einem seiner praͤchtigen Blaͤtter radiert. Diese 
Tragoͤdie des großstaͤdtischen Spekulantentums kehrte denn auch oͤfter wieder 
in den Berlinischen Ereignissen und warf oft grelle Lichter in die sozialen 
Zustaͤnde der Reichshauptstadt. Solche Vorkommnisse erregten die Offent— 
lichkeit mehr als die genauen Untersuchungen der sozialen Lage der arbeiten— 
den Frauen Berlins, die mehrmals vorgenommen wurden. Schon im Jahre 
1883 hatten sich Frauen mit der Arbeiterinnenfrage beschaͤftigt. In den 
Gruͤnderjahren waren naͤmlich zahllose Handwerker in die Fabriken ge— 
gangen. Als sie nach dem Krach arbeitslos wurden, als die Familien hun— 
gerten, sahen sich die Frauen nach einem Verdienst um. Ihre fleißigen 
Haͤnde fanden Beschaͤftigung in der Konfektion, die seit dem Kriege einen 
großen Aufschwung genommen. Der große Zustrom von Arbeitskraͤften hielt 
die Loͤhne niedrig. Manche Rednerin meinte damals, das foͤrdere die Pro— 
stitution. Und als eine Frau sagte, auch die Arbeiterin haͤtte ein Recht, sich 
Sonntags zu putzen, ebenso wie das reiche Maͤdchen, ruͤckten die buͤrgerlichen 
Frauen von den Arbeiterinnen ab. Schließlich wurden die Arbeiterinnen— 
vereine geschlossen, als sie groͤßer wurden und tatsaͤchliche Verbesserungen 
(3z. B. direkte Auftraͤge) forderten. Das hinderte nicht, daß viele Frauen 
sich an der sozialen Bewegung beteiligten. Ja, unter dem Sozialistengesetz 
teilten sie oft die Gefahren mit den Maͤnnern. Vor allem aber teilen sie
	        
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