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Von Bürgern und Kindern

Full text: Sittengeschichte Berlins / Ostwald, Hans (Public Domain)

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verdorben. Er haͤtte seine schoͤne Stellung verbummelt und allerlei. Dafuͤr 
koͤnne sie, Annette, doch nicht, wenn der Mensch so wenig Halt habe. 
Ihr Taͤnzer — sie drehten sich schon wieder im Saal — gab ihr recht, 
und erfuhr dann, daß jene Dame, bei der sie wohne, zwar nicht ihre Tante 
sei, sondern daß sie sie nur so nenne. Und erfuhr, daß Annette nur nach— 
mittags als Kinderfraͤulein gehe und daß dies dafuͤr gezahlte kleine Gehalt 
gerade zur Miete reiche. Darum, wo das uͤbrige herkomme, schien sich Annette 
keine Sorgen zu machen. Und er erfuhr ferner, daß Annette zwar nicht 
wegen der Familie hergekommen sei, sondern wegen des jungen Menschen, 
der sich vorhin so schmaͤhlich gedruͤckt. „So'n Junge!“ machte Annette mit 
einem Anklang an den Dialekt ihrer alpinen Heimat: der Rixdorfer 
Schweiz. 
Aber sie war doch betruͤbt, als sie den Jungen so fesch vorbeitanzen 
sah — und schwaͤrmte davon, wie schoͤn er ihr vor acht Tagen beim Heim— 
gehen durch die dunkle Kaiserallee vorgesungen habe. „Er studiert Gesang —!“ 
Ihr Taͤnzer jedoch glaubte sich zu erinnern, mit dem jungen Mann 
in der Handelsschule zusammengetroffen zu sein. . .. 
Er durfte aber nichts davon sagen. 
Annette schien zu empfindsam zu empfinden. ... 
Als in einer Pause am Nebentisch ein einzelnes Maͤdchen im Kreise 
von bierheiseren Studenten Intimitaͤten der oberen Friedrichstraße aus— 
posaunte, — sie sprach recht bravouroͤs und laut, lehnte sich hintenuͤber und 
sah in dem Saal herum, ob man ihre ungeschminkten Ausdruͤcke auch hoͤre —, 
da stand Annette entruͤstet auf und ging an einen entfernten Tisch, wohin 
diese abscheulichen Redensarten nicht drangen. 
Ihr Taͤnzer durfte auch nichts davon sagen, daß er Annette fuͤr eine 
Stammtaͤnzerin dieses Lokals halte. Denn sie sprach auch von allen 
anderen Tanzlokalen, — von Halensee, von Suͤdende, vom Zoologischen 
Garten, wo ja auch oͤfter getanzt wird. ... 
So hatte sie jene niedliche Person mit dem Federboa um den bloßen 
Hals schon auch da und dort tanzen sehen. Die Haͤndchen auf den Schultern 
des Taͤnzers und dessen Haͤnde um die duͤnne Taille — wie wennste 
schwebst. — 
Und jene, die so meisterlich changieren, so prachtvoll vorwaͤrts und 
ruͤckwaͤrts gleiten konnte, hatte Annette im Gesellschaftshaus zu Gruͤnau — 
na, wenigstens schon zehnmal getroffen. . . . 
Und die Dritte, die mit einem blutjungen, wohlhabend gekleideten 
Menschen tanzte, seine Holpereien nicht beachtete, ihn immer fest im Takt 
herum schwenkte, nannte Annette „die Tanzlehrerin“. Die sei jeden Tag 
auf einem andern Saal zu finden.
	        
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