363
auch von einem heutigen dargestellt sein,
koͤnnte auch heute noch sein unverfroren—
herzloses Wesen treiben. S. 355.
Doch blieben auch die hoͤheren Kultur—
gebilde nicht von der Ironie verschont.
Im biedermeierischen Berlin hatte jede bessere
buͤrgerliche Familie allwoͤchentlich ihren Tee—
abend, an dem die Freunde des Hauses
teilnehmen mußten. An diesen Teeabenden
wurden nicht nur schoͤngeistige Gespraͤche
gefuͤhrt; mit besonderer Vorliebe wurde auch
Musik gemacht. Und die fiel dann nicht
immer so koͤstlich aus wie im Salon der
Rahel, wo die Milder und alle anderen
Groͤßen der Oper und des Konzertsaales die
anspruchsvollen Ohren der Gaͤste erfreuten.
In den buͤrgerlichen Familien traten besonders
die Dilettanten in Aktion. E. T. A. Hoffmann
schildert in seinen Schriften des Kapell—
meister Kreisler einmal spoͤttisch, wie die
Toͤchter des Hauses sich von den Gaͤsten
quaͤlen lassen, wie sie sich zieren und drehen, nur um zum Gesang genoͤtigt
zu werden. „Das Talent der Fraͤulein Roͤderlein ist wirklich nicht das
geringste. Ich bin nun fuͤnf Jahre hier und viereinhalb Jahre im
Roͤderleinschen Hause Lehrer. Fuͤr diese kurze Zeit hat es Fraͤulein Nanette
dahin gebracht, daß sie eine Melodie, die sie nur zehnmal im Theater gehoͤrt
und am Klavier dann hoͤchstens noch zehnmal durchprobiert hat, so weg—
singt, daß man gleich weiß, was es sein soll. . ..“
Hoffmann blieb nicht allein mit seiner Kritik der uͤbertriebenen Hoͤf—⸗
lichkeit und gesellschaftlichen Unaufrichtigkeit, durch die junge und alte Dilet—
tanten zur Preisgabe ihrer Unzulaͤnglichkeit und die Gaͤste zu unechter Be—
geisterung verurteilt wurden.
Die ganze Skala der kulturellen Erscheinungen reizte das Berlinertum
der Biedermeiertage, seinen Witz leuchten zu lassen.
Vor allem aber erkennen wir, daß im Berlin der Biedermeiertage
nicht nur romantische Empfindsamkeit oder idyllische Bescheidenheit die
Hauptziele des Lebens waren. Wo der Witz so hoch im Kurse steht, da ist
Ruͤhrigkeit und Regsamkeit, da gehen die Ideale des Lebens nicht in genuͤg—
samer Behaͤbigkeit unter. Und einen solchen Witz besaß Berlin in den Bieder—
meiertagen. Die besten Persoͤnlichkeiten schufen ihn und erfreuten sich an ihm.