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Kleinbürgertum und Proletariat

Full text: Sittengeschichte Berlins / Ostwald, Hans (Public Domain)

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freiem Himmel. Die braune „Kaffeetante“ steht in der Mitte. Die meisten 
haben ein Taͤßchen vor sich. Großmutter gibt dem Huͤndchen, Vater be— 
stellt die „Weißen“ oder „Braunen“, Onkel sitzt verquer auf der Bank und 
betrachtet verliebt sein Glaͤschen. (S. Beilage.) 
Ein beliebter Ausflug war in jener Zeit auch noch ein Spaziergang zur 
Milchfrau. An schoͤnen Tagen ging wohl die Mutter mit der Tochter hinaus, 
kontrollierte die Sauberkeit der Staͤlle und Gefaͤße und erquickte sich dann an 
Kaffee, derbem Bauernbrot und saurer Milch im Schatten der Baͤume vor 
dem Hause. Diese Ausfluͤge waren uͤbrigens auch oft von ganzen sonntaͤglichen 
Gesellschaften unternommen worden. Der Milchbauer hatte dann zum 
Mittagkochen seinen Herd hergeben muͤssen. Nach dem Essen hatte sich die 
Gesellschaft im Wald oder unter dem Busch gelagert, geschlafen und gespielt, 
getrunken und gegessen. Abends wurde wieder der Leiterwagen oder der 
Kremser bestiegen und im Dunkeln heimwaͤrts gefahren. War die erwartete 
Verlobung bis dahin nicht zustande gekommen — im trauten Nahesein und in 
der naͤchtlichen Finsternis uͤberwand selbst der Schuͤchternste die Scheu. . .. 
Diese Kremserfahrten blieben lange ein beliebtes Ausflugsmittel. Jetzt 
werden sie nur noch ausnahmsweise ausgefuͤhrt. Wie sollten auch solche 
Fuhrwerke die Massen befoͤrdern, die heute aus den Großstaͤdten von den 
Eisenbahnen, den Elektrischen und den Dampfern hinausgeschafft werden in 
die freie, erfrischende Luft und ins erquickende Gruͤn? 
Aber alleè die Hunderttausende, die heute mit der Bahn hinausfahren, 
machen es genau wie ihre Muͤtter und Großmuͤtter: Sie sind naturselig, 
schwaͤrmen jeden stangenartigen Kiefernwald an: „Wer hat dich, du schoͤner 
Wald!“ — spielen im Walde und tanzen zur Grammophonmusik — essen 
„Stullen“, „Karbonaden“ und gekochte Eier — und gehen abends singend 
heim — immer paarweise — jedes Weiblein hat sein Maͤnnlein gefunden. 
Und der „Herr“, der vielleicht schon nachmittags mit dem Kopf in „ihrem“ 
Schoße geschlafen, dem sie die Muͤcken abgewehrt, legt zaͤrtlich den Arm 
um ihre Huͤfte — und sie nimmt ihm den Bierhauch nicht uͤbel ... Bis in 
die Stadt hinein wird gesungen; und je enger es in der Vorortbahn ist, um 
so schoͤner. Wenigstens fuͤr die jungen Leute . . . In diesen Kreisen werden 
an solchen Tagen noch die alten Berliner Humore wach, die sonst ein wenig durch 
die Jagd nach dem Gelde verblassen. Selbst die vielen Zugewanderten be— 
kommen dann einen berlinischen Schwung und nehmen einen Witz, der auf 
ihre Kosten gemacht worden ist, nicht uͤbel. Diese Freude am Wortwitz 
ist aber fast nur noch in den Arbeiter- und Kleinbuͤrgerkreisen zu finden. Nur 
wenige Kreise, die aus alten Familien stammen — es sind oft juͤdische — haben 
noch das Verstaͤndnis und das Empfinden fuͤr die schlagfertige und treffende, 
oft ironische Unterbaltung des Berlinertums. In der Biedermeierzeit
	        
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