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Kleinbürgertum und Proletariat

Full text: Sittengeschichte Berlins / Ostwald, Hans (Public Domain)

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Zahl derjenigen, welche diese Anrede fuͤr sich beanspruchen, hat sich seit kurzer 
Zeit unglaublich vermehrt. Frauen und Toͤchter jedes nur einigermaßen be— 
mittelten oder bemittelt scheinenden Handwerksmannes machen auf dieselbe 
Anspruch, und sehen diesen Anspruch wenigstens in dem engeren Kreise ihrer 
haͤuslichen Verhaͤltnisse erfuͤllt, besonders, sobald es ihnen beliebt, die Haube 
und Muͤtze mit einem sogenannten Kopfzeuge zu vertauschen, welches letztere 
nun einmal ein konventioneller Beweis fuͤr die Rechtmaͤßigkeit des Anspruchs 
auf die Anrede mit Sie, Mamsell und Madame ist. Deshalb ist denn freilich 
sehr begreiflich, daß Haube und Muͤtze auch fuͤr die Weiber und Toͤchter des 
armseligsten Schreibers zu veraͤchtlich geworden ist. 
Überhaupt ist es — nicht eben sehr vernuͤnftig, aber doch sehr gewoͤhnlich, 
daß sich die Anrede einer unbekannten Person nach der Kleidung richtet, und 
daß einer und derselbe Du, Ihr, Er oder Sie heißt, je nachdem er besser oder 
schlechter gekleidet erscheint. Dokumente fuͤr diese Anspruͤche der weiblichen 
Personen aus den niederen Klassen auf Gleichheit der Anrede mit den 
hoͤheren sind unter anderem die halbgedruckten Gevatterbriefe, in welchen 
die Kuͤster, wenigstens die Berliner, mit den beiden franzoͤsischen Praͤdikaten 
Madame und Mademoiselle so freigebig sind, daß selbst die weiblichen Dienst— 
boten der niederen Klassen, Koͤchinnen und Stubenmaͤdchen, mit dem Praͤ— 
dikat Mademoiselle beehrt werden.“ Ein wenig laͤcherlich erscheint uns das 
Gejammere uͤber dies Zeichen einer neueren Zeit. Aber es war sehr natuͤrlich. 
Die bevorzugten Staͤnde fuͤhlten, wie ihnen manch Privilegium entglitt. 
Persoͤnlichkeiten traten damals wenig aus der Masse hervor. Eine 
immerhin eigenartige Person war die Karschin, eine Autodidaktin, die mit 
ihrer improvisatorischen Art in den Jahren nach dem siebenjaͤhrigen Krieg 
einem breiteren Publikum sehr gefiel und sogar in der Koͤniglichen Familie 
boorgestellt wurde und Proben ihres dichterischen Talents ablegte. Sie hatte 
schon manche truͤben Erlebnisse hinter sich, als sie im Alter von 38 Jahren 
nach Berlin kam, war ungluͤcklich verheiratet gewesen und hatte gar keinen 
praktischen Sinn. Zu Anfang war man begeistert von ihr. Alles lief ihr zu, 
— 
keine Entwicklung zeigte, als Lessing und andere die Maͤngel ihrer Produktion 
aufdeckten, ließ man sie unbeachtet stehen. Die Sensation war befriedigt. 
Sie geriet in Armut, die allerdings durch bestimmte Bezuͤge und durch manche 
freundschaftliche Zuwendung gemildert wurde. Übrigens war sie leicht zu— 
frieden zu stellen. Eine froͤhliche Bewirtung konnte sie ungemein vergnuͤgt 
machen, so daß ihr den ganzen Abend improvisierte Gedichte entquollen. 
Dabei zeigte aber auch sie den merkwuͤrdig kecken Ton des Berlinertums. 
Als ihr Friedrich II. auf eine Bittschrift 2 Taler schickte, sandte sie es einge— 
siegelt mit folgendem Vers zuruͤck:
	        
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