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Kleinbürgertum und Proletariat

Full text: Sittengeschichte Berlins / Ostwald, Hans (Public Domain)

319 — 
tieren pflegt. — Ein junges Maͤdchen, wahrschein— 
lich die Tochter der Alten, trug sogleich ein Spiel 
Karten vor das Bette der Wahrsagerin. Fuͤhrwahr 
eine malerische Gruppe, der Tod im Bette, das 
Leben vor demselben, und die Unschuld des die— 
nenden Maͤdchens! Nun begann die Prophezei— 
ung, ein Geschwaͤtze von Wahrscheinlichkeit und 
Moͤglichkeit, von Hoffnungen und Versprechungen, 
mit welchen aber die horchenden Damen nicht 
wenig zufrieden zu sein schienen. Das huͤbsche 
Maͤdchen allein lehnte sich an den Ofen mit einer 
Miene, als wenn die ganze Szene wenig oder gar 
kein Interesse fuͤr sie haͤtte. Jetzt konnte die Alte 
vor Schwachheit nicht mehr reden, und die Tochter 
ging mit einem Teller bei den Damen herum, die 
milden Beitraͤge zu sammeln. Wie gerne haͤtte ich dem armen Kinde auch 
geopfert! Es war aber Zeit, mich zuruͤckzuziehen, die Damen kamen mir 
auf der Ferse nach, und stritten sich heftig um die wahren oder falschen 
Gruͤnde der Prophetin. Das Sonderbarste von allem war dieses, daß sich 
eine Dame in dieser Gesellschaft befand, deren Beruf es ist, solche Szenen 
auf dem Theater laͤcherlich zu machen; aber eben sie glaubte am meisten 
an den Wahrsagungsgeist der alten Luͤgnerin und warum? weil der vornehme 
Liebhaber, mit welchem sie gerade um diese Zeit umging, ihr zum Manne 
verheißen ward. Solcher Schlupfwinkel gibt es hier eine Menge.“ 
Die vielen extremen Erscheinungen einer Großstadt traten im noͤrd— 
lichen Deutschland eben zum erstenmal auf und erregten die Gemuͤter. Berlin 
zaͤhlte am Ende des 18. Jahrhunderts doch schon 150 000 Einwohner. Da trat 
denn auch die Verlockung durch den Reichtum an die aͤrmeren Buͤrgertoͤchter 
heran. Schriftstellern aus jener Zeit fiel es auf, daß die jungen Buͤrgermaͤdchen 
große Putzsucht zeigten und auch gefaͤhrliche Wege nicht scheuten — um zu 
huͤbschen Kleidern und Huͤten zu kommen. Aber das wird wohl in Berlin nicht 
schlimmer gewesen sein als an anderen Orten und zu anderen Zeiten. Eine 
andere Zeit als die bisherige, in der das niedere Volk noch geduzt worden war, 
meldete sich. 
Friedrich Gedike berichtet daruͤber: „Noch sichtbarer ist das Hinauf— 
draͤngen der niederen Klassen bei dem weiblichen Geschlechte, was unter 
anderem schon aus dem jetzt haͤufiger gewordenen Gebrauche der franzoͤsischen 
Anrede Madame und Mademoiselle oder wenigstens Mamsell — denn dem 
Sprachgebrauche nach scheint allerdings diese verstuͤmmelte Form um einen 
Grad tiefer zu stehen als die vollstaͤndige franzoͤsische — hervorgeht. Die
	        
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