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Bortha, oder wie wir sie nannten, unsere Bertha, war eine der treff—
lichsten weiblichen Erscheinungen, die mir im Leben begegnet sind. Ihr Außeres
konnte man nichts weniger als schoͤn nennen; doch blickte man gerne in ihr gutes
Gesicht. Vollstaͤndig und ausschließlich ihren Pflichten lebend, nachsichtig
und liebevoll gegen andere, strenge gegen sich selbst, verstaͤndig, fleißig und
sparsam, war sie treu im schoͤnsten Sinne des Wortes. Nach dem fruͤhen Tode
ihrer Eltern hatte eine alte Großmutter das Kind in Froͤmmigkeit und Gottes—
furcht auferzogen; ihr Gesangbuch lag bestaͤndig neben ihr; in Stunden des
Zweifels und der Bekuͤmmernis fand sie Trost in den alten Liederversen.
Von dem Tage an, wo sie unser Haus betrat, suchte sie meiner Mutter
sjede Muͤhe und Sorge abzunehmen, meine Schwester Mathilde und mich
gewann sie bald lieb, und wir hingen an ihr mit groͤßter Zaͤrtlichkeit. — Wenn
spaͤter einmal die Rede davon war, daß sie heiraten, oder aus irgend einem
anderen Grunde unser Haus verlassen koͤnnte, so erhob sich ein unstillbares
Weinen und Wehklagen der Kinder, in das sie dann selbst mit einstimmte,
und unter Thraͤnen versprach,
bis an ihren Tod bei uns zu
bleiben. — Bald betrachteten
wir sie alle wie ein Glied
der Familie und nicht blos
meine Eltern, sondern auch
Freunde und Verwandten
des Hauses befragten sie um
ihre Meinung in Wirtschafts⸗
und allen anderen Angelegen—
heiten. Den Scherznamen
Geheimrat, den wir ihr bei—
legten, verdiente sie im
besten Sinne, denn sie war
ebenso verschwiegen wie ver—
staͤndig, und ein anvertrautes
Geheimnis wurde nirgends
besser bewahrt als in ihrer
treuen Brust. Sie hat viel
Freude und Schmerz, Krank—
heit und Genesung, auch
Todesfaͤlle in unserem Hause
miterlebt, stets sich gleich—
bleibend in aufopfernder
Pflege, und Tag und Nacht
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