9
Ulrich Hübner: Dezemberstimmung. Leipziger- und Friedrichstraßen-Ecke (1908)
das eleganter und vornehmer wirkt als die Mietwohnungen oder die wenigen
Magnatenpalaͤste, die heute noch zwischen Schloß und Tiergarten zu finden
sind. Der Guͤter- und der Großindustrieadel gewoͤhnen sich uͤbrigens immer
mehr daran, in den großen Hotels zu uͤberwintern. Und hier kommen denn auch
die Damen in eine andere Luft und bringen oft in die Kreise der Diplomatie
und des Buͤrokratenadels Frische und Anregung — die denen oft nottut,
wollen sie nicht im Klatsch uͤber Familienmitglieder und gute Freunde er—
sticken. Feinere, intimere Geselligkeit, zu der ja stets immer gewisse Herzlich—
keiten gehoͤren, sind hier sehr selten. Dazu fehlt es den Kreisen an Zeit und
an jener Liberalitaͤt, die allein durch eine feine Mischung verschiedenster An—
schauungen, verschiedenster Berufe und verschiedenster Veranlagungen Ge—
selligkeit, Lebendigkeit und eine erfrischende Gaͤrung erzielt.
Diese liberale Mischung fehlt heute fast dem ganzen Berlin. Sie fehlte
ihm vor allem in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts, wie der
gut unterrichtete Otto von Leixner berichtete. Offiziere unterhielten außer—
halb ihres Clans nur Verkehr mit reichen Schwiegereltern. Die hohen Beamten
und Hochschullehrer, die meist nur von ihren Gehaͤltern lebten, mußten sich
sehr einschraͤnken und konnten hoͤchstens einigemal im Jahre eine „Abfuͤtterung“
veranstalten, bei denen selbst die Schlafzimmer und Flure zu Gesellschafts—