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dessen Eitelkeit es schmeichelte, eine solch geweckte und fast schon geistvolle
Tochter zu haben. Er verstand es, ihren Willen zu beugen, und sie klagte spaͤter
oft daruͤber, daß sie am Ufer des Lebens stehe und den Strom an sich vorbei—
gleiten lassen muͤsse.
In solchen Zustaͤnden war es ein Gluͤck fuͤr Rahel, daß ihr Vater vor—
urteilsfreier war als viele seiner Zeitgenossen und Glaubensbruͤder. Er
pflegte in seiner Familie einen freieren Ton, als sonst uͤblich war. Musik,
Theater und Lektuͤre, alle schoͤnen Wissenschaften wurden mit Geschmack und
Eifer betrieben. Aber eine systematischeBildung konnte sich Rahel doch nicht
aneignen, und sie klagte oft spaͤter, daß es ihr an Orthographie mangele und
daß ihr auch die Sprachen schwer wuͤrden. Was aber das zur Reife
sich neigende deutsche Geistesleben an Fruͤchten zeitigte, nahm sie ebenso
willig auf wie so viele andere Juͤdinnen. Damals waren gerade die jungen
Frauen der reichen juͤdischen Kaufleute bemuͤht, sich die Uppigkeit und Lange—
weile ihrer haͤuslichen Einsamkeit zu einer Welt feinen Geisteslebens um—
zugestalten.
Trotzdem die Juden noch durch teuer erkaufte Schutzbriefe sich das Recht
der Niederlassung erwerben mußten und auch noch lange nicht den uͤbrigen
Staatsbuͤrgern gleichgestellt waren, lebte in ihren Zirkeln zuerst ein freie
und edle Geselligkeit auf. Sie sind
nun einmal mehr mit der Gabe der
Unterhaltung, des Plauderns und der
Rede begabt. Ihr Temperament ist nicht
so schwerfaͤllig, und ihre ganze Veran—
lagung draͤngt sie mehr auf lebhaften
Verkehr mit Menschen.
Am Ende des 18. Jahrhunderts konn⸗
ten sie diese Talente zum erstenmal voll
betaͤtigen. Bis dahin waren sie auf jede
Weise noch mittelalterlich eingeengt, durf—
ten nur Geldgeschaͤfte machen, mußten
sich auf Reisen bei jeder Zollstation wie
das Vieh verzollen und durften die Stadt
nur durch zwei Tore verlassen oder betre—
ten. Abgeschlossen von der sie umgebenden
Außenwelt, hingen sie an ihrem alten uͤber—
lieferten Glauben mit orthodoxer Un—
bildung — bis Mendelssohn, der Freund
Lessings, die Schranken durchbrach, und
seit der Mitte des 18. Jahrhunderts sein