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selbst die fortgeschrittensten Juden in mittel—
alterlichen Sitten befangen. Dorothea, die
aͤlteste Tochter Mendelssohns, ward dem
braven Kaufmann Veit zur Frau gegeben;
sie war dem ungeliebten Mann eine gehor—
same Frau gewesen, hatte ihm auch zwei
Soͤhne geboren — aber der Kontormensch
konnte den hochgestimmten Beduͤrfnissen der
schoͤnen Seele nicht genuͤgen. Und als der
fuͤnfundzwanzigjaͤhrige Friedrich Schlegel in
das Haus der Dreißigjaͤhrigen kam, erblickte sie
in dem schwaͤrmerischen und witzigen Literaten
das Ideal ihrer Jugend. Lange kaͤmpfte sie mit
sich, ob sie ihren Mann, den Vater ihrer
Kinder, verlassen solle. Nach einer schweren
Erkrankung hoͤrte sie, daß auch Schlegel
schwer erkrankt sei. Da wollte sie alle Hinder—
nisse beseitigen, um ihn pflegen zu koͤnnen.
Henriette Hertz vermittelte diesen bedeut—
samen Schritt. Aber die ganze Stadt geriet
in Aufruhr — besonders als nun der Roman
„Lucinde“ erschien. Alle glaubten, sie habe
das Vorbild abgegeben. Erst spaͤter heirateten sie, und sie ertrug
um ihrer Liebe willen alle Wechselfaͤlle, die das unruhige Literaten—
leben Schlegels mit sich brachte. Sie wußte selbst in der groͤßten
Duͤrftigkeit eine trauliche Haͤuslichkeit herzustellen und ihren literarischen
Arbeiten zu leben.
Von anderer Art war Henriette Hertz, die auch nach vaͤterlichem Willen
oberheiratet worden war. Ihr Mann, Markus Hertz, ein beliebter Arzt, der
fuͤr vortreffliche Vortraͤge viele Jahre vor der Gruͤndung der Berliner
Universitaͤt zum Professor der Philosophie ernannt worden war, hatte sie
unterrichtet und erzogen. Sie konnte schließlich einen Salon eroͤffnen, in dem
die beiden Humboldts, Schleiermacher und viele andere geistige Kapazitaͤten
Berlins verkehrten. In ihrem Salon und denen ihrer Freundinnen fanden
die jungen Geister jene Anregung und geistige Befruchtung, die ihnen in
den hoͤheren Schichten durchaus versagt blieb. Eine besonders tiefe und
originelle Persoͤnlichkeit ist die Hertz wohl nicht gewesen. Aber sie muß manche
weibliche Gaben in hervorragender Weise besessen haben. Ihr muß es leicht
gewesen sein, sich anzupassen, zur rechten Zeit zu schweigen oder auch durch
irgendwelche angelesenen poetisch-philosophischen Ausspruͤche anregend zu
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