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Imallgemeinen waren damals uͤber—⸗
haupt die Sitten sehr ungezwungen.
Auch am Hofe der Koͤnigin Luise
wurden jene antikisierenden Moden ge—
tragen, deren durchscheinende Stoffe
die weibliche Gestalt mehr enthuͤllten
als versteckten. Im Tanz kam ebenfalls
der Zug zur Klassik zum Vorschein.
Und das jugendliche Taͤnzerpaar Vi—
gano, das G. Schadow im Jahre
1796 zeichnete, hat wahrscheinlich kuͤnst—
lerisch schoͤnere Eindruͤcke den Berlinern
hinterlassen, als die Duncan, die vor
rzinigen Jahren Berlin mit ihren nicht
bedeutungslosen, praͤchtigen, der ge—
zierten und barbarischen italischen Ballet—
vopserei fernen Taͤnzen begeisterte.
Bei den sittenlosen Zustaͤnden in
Berlin — und besonders in den oberen
Schichten, wo eine Graͤfin Lichtenau
alles galt, ist es sonderbar, daß sich im
Theater folgende Szene zutragen konnte:
Die Tochter Doͤbbelins hatte, wie
F. W. Gubitz in seinen „Erlebnissen“ erzaͤhlt, ein intimes vieljaͤhriges
Verhaͤltnis mit einem Manne, den sie aus manchen Gruͤnden nicht heiraten
konnte. Als dies Verhaͤltnis zum zweitenmal Folgen hatte, machte das
Publikum bei ihrem Erscheinen großen Laͤrm. Sie mußte von der Buͤhne
abtreten. Das Publikum gab sich nicht zufrieden, bis der Direktor erschien
und zwar etwas erregt, aber mit seinem gewoͤhnlichen Pathos begann: „Ge—⸗
schaͤtztes Publikum! Tugend kann straucheln — —“
Da rief jemand aus dem Publikum:
„Aber nicht zweimal!“
Unter Laͤrm und Gelaͤchter mußte Doͤbbelin abtreten.
Diese rohe Demonstration des Publikums stimmte nicht ganz uͤberein
mit der Gelassenheit, die es sonst bei gewissen Ereignissen zeigte. Und Karoline
Doͤbbelin faßte in ihrer Entruͤstung den Entschluß, in Berlin nicht wieder
die Buͤhne zu betreten. Der bessere Teil des Publikums aber verlangte so
nachdruͤcklich ihr Wiederauftreten, daß sie den schmeichelhaften Aufforderungen
nachgab und als — Orsina in Emilia Galotti von dem uͤbervollen Haus mit
causchendem Beifall empfangen wurde.
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