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Es war ein erster Stillstand im Handeln, ein erstes Versagen
von Liebers Parlamentspolitik im Reiche, das freilich noch kein Stille—
stehen auch in ihrer ideellen Weiterbildung bedeutete. Diese vollzog
sich vielmehr noch so lebhaft, daß er im Februar 1899 die Polenfrage,
die wichtigste und peinlichste Frage der preußischen Politik, die er seit
der Mitte des Jahrzehnts mit der äußersten Vorsicht behandelte, in den
Kreis seiner Erörterungen im Reichstag einzubeziehen den Mut hatte. Er
hatte nach und nach begriffen, daß der Völkerkampf im Osten gewaltige
Gestalt annahm und sein Feuerbrand weit hinaus über jedes Partei⸗
getriebe loderte. Es galt ein Problem, das dem preußischen Politiker
Tag und Nacht folgte, die deutschen Volksgenossen aber Schulter an
Schulter rief. Die Situation im Parlament war unsagbar verwickelt.
Die Polenpolitik des Zentrums führte in die 80 er Jahre zurück und
war der schärfsten Oppositionsstimmung gegen Bismarck entsprungen.
Viele Abgeordnete und die meisten Blätter der Partei schworen auf
sie. Aber auch die Bahn der preußischen Zwangsverordnungen und
gesetze gewährte nicht die Aussicht auf ein erreichbares Ziel. Der
Führer der maßgebenden Fraktion des Reichstags suchte nach einem
selbständigen neuen Wege. Die Schwäche unseres nationalen Bewußt⸗
seins im Vergleich zu dem der Nachbarn, sowie das Anpassungs-
bedürfnis des Deutschen an das Fremde galten ihm als die Haupt—
gefahren unserer Stellung im Osten. Helfen könne dagegen, so führte
er aus, wenn der deutsche Gemeingedanke gesteigert und selbst gegen
das kräftigste, das preußische Partikularbewußtsein mit aller Hingabe
gepflegt, wenn ferner nicht durch Schärfe das deutsche Mitgefühl für den
Fremden im Volke gereizt werde und wenn man nicht durch Unter⸗
drückung der Muttersprache die Fremden innerlich der deutschen Staats—
ordnung abwendig mache. So befürwortete er eine Entwirrung der
Lage durch die Selbsthilfe der Nation unter Nachhilfe von Reichs
wegen; das besondere preußische Element des Problems vernachlässigte
er. Indem er sich aber zum ersten Male darüber aussprach, legte er
an den Tag, daß seine Vorstellung von dem, was zu tun sei, noch
im allgemeinsten festhaftete. Auch hielt er für nötig, sich für ihre Dar—
legung eines Vorwands, nämlich einer Erörterung über Nordschleswig
zu bedienen und das polnische Problem nicht unmittelbar anzufassen,
sondern von den nationalen Minderheiten insgesamt zu reden.
Jene Wochen der Session kamen heran, da die Arbeit der Kom⸗
missionen so weit zu gedeihen pflegt, daß die ersten Entscheidungen im