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Siebenter Abschnitt. Preußen und das Reich. Lebensende. 1898-1902

Full text: Ernst Lieber als Parlamentarier / Spahn, Martin (Public Domain)

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interesse an der Reform ebenso verlor, wie seine politische Widerstands⸗ 
kraft zurückgewann. Indessen Lieber lehnte in jener Debatte die Mit⸗ 
arbeit seiner Partei mit dem Bundesrate aufs schroffste ab. Er faßte 
die verfassungsgeschichtliche Bedeutung des Problems nicht ins Auge. 
Seine eigene Lex Lieber, die der Reichstag 1897 beschlossen hatte, 
ging nicht aus dem Rahmen bloßer Etatspolitik heraus. Die Idee 
zu ihr hatte er 1894 beim Übertritt aus der Schule der preußischen 
Haushaltspolitik in die Praxis der Budgetkommission des Reichstags 
mit hinübergenommen. Anfangs war er zwar für eine Weile an ihr 
zum Zweifler geworden, weil sich bei der öffentlichen Erörterung des 
Miquelschen Reformentwurfs die finanztechnische Natur der Steuer⸗ 
reform in dem Einzelstaate Preußen und der organische Charakter der 
Aufgabe im bundesstaatlichen Reich und also ihre grundsätzliche Ver⸗ 
schiedenheit deutlich herausstellte. Als jedoch weder durch den Minister 
noch aus der Erörterung ein Weg zum Ziele gefunden wurde, war 
Lieber in die alten eigenen Gedankengänge zurückgekehrt und hielt sich 
fortan in ihnen mit einer Hartnäckigkeit, die bei seiner sonst so großen 
Einsicht in das Maß parlamentarischer Initiative wundernimmt. Ganz 
so sicher und so selbstbewußt, wie er die Reform im Dezember 1898 
abwies, war er freilich über sie im Innern nicht. „Die Verhältnisse“, 
hatte er früher einmal von der Finanzentwickelung des Reichs gesagt, 
„sind stärker als die stärksten Menschen; sie sind auch stärker gewesen 
als die stärksten Parteien, auch stärker als die stärksten Parlamente.“ 
Lieber fühlte wohl auch jetzt, um wieviel es sich handelte. Er ging 
der Bewältigung der Aufgabe nur aus dem Wege. Der Verfall seiner 
körperlichen Leistungsfähigkeit lähmte ihn. Aber auch psychische Hemm— 
nisse wirkten ein. Die Einnahmen des Reichs gingen schon wieder 
zurück. Die Ansprüche wuchsen. Die Finanzreform war nur mög— 
lich, wenn der Reichstag zugleich neue Steuern bewilligte. Lieber 
—O0 
für die Reichsfinanzen in der Erschließung direkter Einnahmen für 
das Reich zu sehen. Schreckte er vor seiner Anwendung zurück, als 
die Stunde der Entscheidung näher und näher kam? Die Sozial—⸗ 
demokraten hätten schwerlich fortan in dem Anspruch auf die sozial⸗ 
politische Belastung der Besitzenden ein Maß gekannt, und Lieber 
war ein zu erfahrener, der Sozialdemokratie gegenüber zu behutsamer 
Politiker, als daß ihn die Verantwortung nicht hätte beklemmen 
sollen. Seine Partei aber nahm sie ihm nicht mehr ab.
	        
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