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Siebenter Abschnitt. Preußen und das Reich. Lebensende. 1898-1902

Full text: Ernst Lieber als Parlamentarier / Spahn, Martin (Public Domain)

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dem altpreußischen Staatsgeiste und dem demokratischen Organismus 
des Reichs auszugleichen. Als 1894 nun gar Hohenlohe Reichs— 
kanzler wurde, ein alter Mann, aber eine noch immer scharf gezeichnete, 
kluge und ihr Machtbereich überwachende Persönlichkeit, schien es, daß 
er durch seine Herkunft, seine an Erlebnissen und Berührungen reiche 
Vergangenheit und seine maßvolle Gesinnung die beiden politisch ton⸗ 
angebenden Männer in Preußen und im Reich ergänzen, vor sie 
treten und die Richtung angeben würde, auf die sie sich einigten. Tat⸗ 
sächlich aber wurden Hohenlohe und Lieber auf eine, Miquel auf die 
andere Seite gedrängt. Anfangs folgten daraus versäumte Gelegen— 
heiten, zum Schlusse arge Schäden. Denn in diesem persönlichen Streit 
ward jenes tiefere, allgemeinere Mißverständnis rege erhalten und 
doch zugleich verdeckt, zu dessen Überwindung Miquel und Lieber mehr 
als andere berufen zu sein schienen: daß nämlich das Reich und 
Preußen in ihrer Entwickelung nicht in einen Schritt kommen konnten. 
Der leitende preußische Staatsmann zeigte sich längst nicht mehr im 
Reichstag, der Zentrumsführer ergriff nur noch gelegentlich im Land— 
lag das Wort. Mit der Session 189899 spitzte sich ihr Konflikt zu, 
und er sollte den parlamentarischen Ereignissen des Jahres 1899, 
dem Kampfe um das Erbe des vorigen Reichstags und um die An— 
näherung Preußens an das Reich, das Gepräge verleihen. 
Die erste Etatsdebatte des neuen Reichstags im Dezember 1898 
belichtete die Lage und ihre Aussichten sofort, indem sie von ver— 
schiedenen Seiten her unter das Zeichen der Reichsfinanzreform ge— 
stellt wurde. Die inneren Bedürfnisse des Reichs erheischten sie. 
Anderseits entschwand die beste der Gelegenheiten, Preußen fester als 
bisher in die Reichsentwickelung zu verknüpfen, je länger man die 
Reform hinzog. Preußen blieb bis zum Ende des Jahrhunderts über 
die Gesundung seiner Finanzoerhältnisse in Sorge, und war in 
ihrem Interesse bereit, die Organisation des Reichs stärken zu helfen, 
obwohl den Finanzminister das Scheitern seines Entwurfs im Jahre 
1894 persönlich gekränkt hatte. Benutzte der Reichstag den guten 
Willen Preußens und verstärkten die großen volks- und wirtschafts 
politischen Unternehmungen des Staats diesen guten Willen in der 
nächsten Zeit, dann war der entscheidende Schritt der Annäherung 
Preußens an das Reich vielleicht getan. Sonst kamen schon Jahre 
in Sicht, da Preußen auch ohne die Hilfe des Reichs zu einer dauernden 
Überschußwirhschaft zu gelangen vermochte und dann das Haushalts⸗
	        
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