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Sechster Abschnitt. Der "Reichsregent"

Full text: Ernst Lieber als Parlamentarier / Spahn, Martin (Public Domain)

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gleichsam nur noch in seinem Gefühl als Parteiführer, es reifte nicht 
zur Tat. 
Der am meisten charakteristische Zug seiner Persönlichkeit trat in 
dieser Begrenztheit seiner geistigen Leistungsfähigkeit hervor. Er läßt 
sich, ohne Beziehung auf eine einzelne Aufgabe, ganz allgemein an 
ihm beobachten, sobald man Lieber aus dem Reichstag in die Volks⸗ 
versammlungen und in seine nicht politische öffentliche Tätigkeit begleitet. 
Im Parlament war seit Ausgang der 80O er Jahre das kirchenpolitische 
Element hinter das reichspolitische mehr und mehr zurückgetreten. 
Draußen im Lande schlug die politisch-kirchliche Bewegung noch immer 
ihre Wogen. So feindselig wie je äußerte sie sich gegen die Bureau— 
kratie und die von ihr vertretenen Regierungen. Auch war ihr der 
herbe Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Liberalismus geblieben. An 
dem modernen Schulwesen und der Wissenschaftslehre der Universitäten 
übte sie bittere Kritik. Es ist eine alte Erfahrung, daß Politiker, nach— 
giebig gegen den Eindruck ihres Milieus, inmitten von Volksmassen 
schärfer sprechen als innerhalb der Mauern eines Parlaments. Aber 
Lieber sprach dort nicht nur schärfer, sondern sobald er vor Katholiken 
sprach, ging er in seinen Empfindungen mit der ihn umtosenden Menge 
zusammen. Wenn er also seit 1889 zu den meisten seiner Volksreden 
in der Absicht fuhr, durch sie den konfessionellen Charakter der Zentrums— 
organisation im Lande zu überwinden und durch einen politisch-sozialen 
zu ersetzen, so hat er sich in der heißen Luft der Versammlungen selber 
dieses Ziel doch keineswegs unverrückbar vor Augen gehalten und im 
eisernen Gleichmaß der Arbeit durchgesetzt. Es genügte die Berührung 
mit der Masse, um ihn in den Bann der Ideen und Stimmungen 
zurückzuführen, mit denen die katholisch-idealistische Bewegung der Jahr⸗ 
hundertmitte ihn und seine Glaubensgenossen erfüllt hatte. Der psycho⸗ 
logische Prozeß war derselbe, kraft dessen er sich im Reichstag 
von dem politisch-nationalen Drange des deutschen 19. Jahrhunderts 
beseelt zeigte. Wie aber in den 9er Jahren auch noch das poli⸗ 
tische Leben der Einzelstaaten, verglichen mit dem des Reichs, unter 
dem Einfluß der kirchenpolitischen Kämpfe der beiden Jahrzehnte vor⸗ 
her geblieben war, so ergriff Lieber im preußischen Landtag das Wort 
ebenfalls noch für gewöhnlich zu Kulturkampfsfragen und ganz im 
alten Ton und Tenor der Anklage wider Regierung und Parteien. 
So wird nur um so gewisser, daß, was in seiner Reichstagsführung 
seit 1893 vorging, keine Evolution neuer Ideen, sondern nur der
	        
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