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gleichsam nur noch in seinem Gefühl als Parteiführer, es reifte nicht
zur Tat.
Der am meisten charakteristische Zug seiner Persönlichkeit trat in
dieser Begrenztheit seiner geistigen Leistungsfähigkeit hervor. Er läßt
sich, ohne Beziehung auf eine einzelne Aufgabe, ganz allgemein an
ihm beobachten, sobald man Lieber aus dem Reichstag in die Volks⸗
versammlungen und in seine nicht politische öffentliche Tätigkeit begleitet.
Im Parlament war seit Ausgang der 80O er Jahre das kirchenpolitische
Element hinter das reichspolitische mehr und mehr zurückgetreten.
Draußen im Lande schlug die politisch-kirchliche Bewegung noch immer
ihre Wogen. So feindselig wie je äußerte sie sich gegen die Bureau—
kratie und die von ihr vertretenen Regierungen. Auch war ihr der
herbe Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Liberalismus geblieben. An
dem modernen Schulwesen und der Wissenschaftslehre der Universitäten
übte sie bittere Kritik. Es ist eine alte Erfahrung, daß Politiker, nach—
giebig gegen den Eindruck ihres Milieus, inmitten von Volksmassen
schärfer sprechen als innerhalb der Mauern eines Parlaments. Aber
Lieber sprach dort nicht nur schärfer, sondern sobald er vor Katholiken
sprach, ging er in seinen Empfindungen mit der ihn umtosenden Menge
zusammen. Wenn er also seit 1889 zu den meisten seiner Volksreden
in der Absicht fuhr, durch sie den konfessionellen Charakter der Zentrums—
organisation im Lande zu überwinden und durch einen politisch-sozialen
zu ersetzen, so hat er sich in der heißen Luft der Versammlungen selber
dieses Ziel doch keineswegs unverrückbar vor Augen gehalten und im
eisernen Gleichmaß der Arbeit durchgesetzt. Es genügte die Berührung
mit der Masse, um ihn in den Bann der Ideen und Stimmungen
zurückzuführen, mit denen die katholisch-idealistische Bewegung der Jahr⸗
hundertmitte ihn und seine Glaubensgenossen erfüllt hatte. Der psycho⸗
logische Prozeß war derselbe, kraft dessen er sich im Reichstag
von dem politisch-nationalen Drange des deutschen 19. Jahrhunderts
beseelt zeigte. Wie aber in den 9er Jahren auch noch das poli⸗
tische Leben der Einzelstaaten, verglichen mit dem des Reichs, unter
dem Einfluß der kirchenpolitischen Kämpfe der beiden Jahrzehnte vor⸗
her geblieben war, so ergriff Lieber im preußischen Landtag das Wort
ebenfalls noch für gewöhnlich zu Kulturkampfsfragen und ganz im
alten Ton und Tenor der Anklage wider Regierung und Parteien.
So wird nur um so gewisser, daß, was in seiner Reichstagsführung
seit 1893 vorging, keine Evolution neuer Ideen, sondern nur der