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Sechster Abschnitt. Der "Reichsregent"

Full text: Ernst Lieber als Parlamentarier / Spahn, Martin (Public Domain)

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trum unterstützten. Der Bundesrat drohte, daß er eher auf das Ge— 
setzbuch verzichten als weichen werde. So zog Lieber vor, nicht die 
Stärkung des Reichs und die Erleichterung der sozialen Organisation 
zugleich zu gefährden. Er begnügte sich, sein Begehren in einer Reso— 
lution niederzulegen, die der Reichstag gegen Ende des Jahres an— 
nahm. Teils täuschte sich der Zentrumsführer damals über das Maß 
an zwingender Kraft, worüber das Reich gegen die Einzelstaaten schon 
verfügte; teils verließ er sich auf eine Zusage des Reichskanzlers, die 
dieser nicht einlöste, als das preußische Ministerium widersprach. Durch 
das Verhalten des Kanzlers gewann die Aktion vom nächsten Jahre 
ab staatspolitische Bedeutung. Ihr sozialpolitisches Ziel wurde darüber 
nicht aus den Augen verloren, aber auch nicht mehr nachdrücklich ver— 
folgt. Hohenlohe, der in jener Zeit Kanzler war, betrachtete das 
Problem der sozialen Organisation innerlich ebenso gleichgültig, wie 
er die Ausbildung des Reichs zu einem einheitlichen föderativen Staats⸗ 
wesen begünstigte. So erlahmte Lieber. Das Geschehnis erhärtete, 
daß er nicht selber des Ganges der Dinge mächtig war, sondern nur 
der mitarbeitende Parlamentarier. Indessen hätte ihn das nicht zu 
hindern brauchen, aus der Angelegenheit einen Brennpunkt der öffent⸗ 
lichen Meinung seiner Partei und ebenso des Reichstags zu machen, 
wie er es sonst wohl trefflich verstand. Das allein gibt zu denken, 
daß er dies unterließ. Denn es mag sich daran besonders deutlich 
erweisen, wie doch nicht nur der Kanzler, sondern auch Lieber aus 
jener Zeit, in der er durch die Eindrücke seiner Jugend wurzelte, mit 
ihrem politischnationalen Drang und ihrer sozialpolitischen Unberührt⸗ 
heit zum reinen Politiker geboren war. Wohl hatte er 1878 1889 
das Drängen seiner Fraktion auf Arbeiterschutz eifrig wie keiner und 
auch mit aufrichtigem Interesse im Reichstag vertreten, und seitdem 
arbeitete er als werbende Kraft seiner Partei daran, deren Organi— 
sation und die sozialpolitische Vorwärtsbewegung im „Volksverein“ 
in Zusammenhang zu bringen. Aber inzwischen war die Versuchung 
über ihn gekommen: der christlich-deutsche Traum seines Vaterhauses 
wurde lebensvolle, wuchtende Wirklichkeit, das Reich erhob sich 
über den einzelstaatlichen Partikularismus, im Reiche kam der Ka— 
tholizismus zu Einfluß. Da konzentrierten sich seine Kräfte auf 
die unmittelbare staatliche Wirksamkeit. Unter allen Umständen wollte 
er damals, daß der politische Reichsorganismus stark wurde und sich 
aufrichtete. Was die Sozialpolitik der Stunde erforderte, hatte er
	        
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