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Ordnung anpassen. Sie brauchen es nicht stlavisch zu tun, wie ihren
Parlamenten auch nicht verwehrt werden soll, zu den sie mitbetreffenden
Problemen der Reichspolitik vor deren Entscheidung Stellung zu nehmen.
Aber richten müssen sie sich nach dem Reich. Sonst ist es unausbleiblich,
daß allmählich kraft der überlegenen Macht der Entwickelung Reichs—
recht Landesrecht bricht. Denn im Vergleich zu den Einzelstaaten ist
das Reich der in lebhafterer Ausbildung begriffene Organismus. Das
gibt auch seiner Verfassung ihr Gepräge. Sie fließt. Die Formen
der Verfassungsänderung sind im Reich „unendlich viel weniger um—
ständlich und schwierig als in den Einzelstaaten“; die Abgeordneten
beschwören sie nicht. Unter der Reichsverfassung lebt noch „— kann
man geradezu sagen — ein Naturrecht des Reiches“, das erst all⸗
mählich in ihr zum Ausdruck gelangt, aber durch die ihm eingeborene
Kraft fortwährend zur Ausdehnung der Reichsbefugnisse führt. Das
Interesse der Allgemeinheit oder sachlich höhere Interessen, als sie von
den Einzelstaaten gepflegt werden, sind dabei der treibende Faktor,
und das Organ, wodurch das Verfassungsrecht des Reichs sich stetig
fortbildet, ist der Reichstag und seine Kommissionen.
Innerhalb dieser Verhältnisse suchte Liebers Ehrgeiz seiner Partei
ihre besondere Aufgabe zuzuweisen. Sie ist „von Hause aus“ die
Partei, die den föderativen Charakter des Reichs zu wahren sich zur
ersten Pflicht machte. Sie erkennt an, daß alle Teile und Glieder
des Reichs wie alle Verbände innerhalb desselben „in ihren öffent⸗
lichen wie Privatrechtszuständen eine einheitliche Erscheinung darbieten
sollten“. Dabei den richtigen Ausgleich, „das richtige Verhältnis zu
finden zwischen notwendiger Einheitlichkeit auf der einen und schonender
Erhaltung der Besonderheiten auf der anderen Seite“, will das Zen⸗
trum in besonnener und ruhiger Weise helfen.
Bedingung für den Erfolg dieser Bemühung der Partei war
einerseits, daß die 1893 noch vielfach beklommenen katholischen Wähler
des Zentrums mit dem Gefühle der Hingabe an die nationalen Be—
dürfnisse und mit dem Verständnisse dafür beseelt wurden, anderseits,
daß gute Beziehungen zwischen dem Zentrum und Bundesrat, sowie
unter den Reichstagsfraktionen gepflegt wurden. „Gott sei Dank“,
sagte Lieber in der ersten Etatsrede, die er im folgenden Reichstag
am 15. Dezember 1898 hielt, „ist auf beiden Seiten in weiten und
maßgebenden Kreisen die Rückkehr des Vertrauens (zwischen dem katho—
Spakn. Lieber.