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Sechster Abschnitt. Der "Reichsregent"

Full text: Ernst Lieber als Parlamentarier / Spahn, Martin (Public Domain)

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noch unnational verwenden. In den auswärtigen Angelegenheiten 
übte Lieber deshalb nicht nur Zurückhaltung, um die deutsche Diplo— 
matie nicht zu schädigen, sondern machte es sich auch „zur Gewissens— 
sache, bis an die äußerste Grenze der Möglichkeit zu gehen, um ohne 
alle Parteiunterschiede den Reichstag geschlossen an der Seite der Reichs— 
regierung zu halten“. Ein verwandtes Bemühen legte er in der 
inneren Politik an den Tag. Er verdankte den Sinn dafür seiner 
guten nassauischen Bürgerbildung und nächstdem seinen Erfahrungen 
bei der Arbeit in den Kommissionen. Als er vollends im Laufe der 
8Oer Jahre in den heimatlichen Kreistag und Kreisausschuß, in den 
Kommunallandtag des Regierungsbezirks Wiesbaden, sowie in den 
Provinziallandtag und Provinzialausschuß von Hessen-Nassau gewählt 
wurde, ward ihm der nähere Einblick in die Selbstverwaltung ein 
vorzügliches Korrektiv für manche der Staatsverwaltung noch abholde 
Meinung. Seine Reden der 90er Jahre sind von konservativer Rück 
sicht auf die Staatsbehörden erfüllt, seine Arbeit in dieser selben Zeit 
diente ebenso unablässig dem Zustandekommen aller größeren Regierungs— 
vorlagen, soweit ihm seine politische Üüberzeugung die Mitwirkung nicht 
verbot. Eine ungewöhnliche Sachkenntnis und eine nicht geringere 
Gewandtheit in den Geschäften begünstigte ihn. 
Zu dieser Mittlertätigkeit ward Lieber nicht nur durch taktische 
Überlegungen bestimmt; vorzüglich ein hoher sachlicher Gesichtspunkt 
orientierte seine Politik. Wesen und Geist der Reichsverfassung war, 
als Lieber an Windthorsts Stelle trat, noch strittig und biegsam. Für 
alle Beteiligten, ob es nun die verbündeten Regierungen oder der 
Reichstag, die einzelnen Staaten oder einzelne Parteien waren, lag 
darin eine Gefahr. Windthorst hatte in dieser Erkenntnis von An— 
fang an betont, daß der Wortlaut der Reichsverfassung nicht als Stück 
Papier gelten dürfe; sie müsse als „die Grundlage des Reiches“ ge— 
achtet werden, „so wie es geworden“, wie es entstanden ist. Lieber 
eignete sich den Satz an. Zumal Einmischungen in die inneren Ver— 
hältnisse der Bundesstaaten, wozu besonders die Mecklenburgische Ver— 
fassung und seit 1898 Lippe reizte, schienen ihm ausgeschlossen. Der 
Einzelstaat unterliegt nicht der Souveränität des Reichs. Reichsrecht 
geht nicht vor Landesrecht, und der Reichstag darf nach der Über— 
zeugung vieler nicht einmal die Initiative ergreifen, um die Reichs— 
gesetzgebung in Kompetenzen, die ihr noch nicht zugewiesen sind, zuständig 
zu machen. Hingegen muß von den Einzelstaaten erwartet werden, daß
	        
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