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noch unnational verwenden. In den auswärtigen Angelegenheiten
übte Lieber deshalb nicht nur Zurückhaltung, um die deutsche Diplo—
matie nicht zu schädigen, sondern machte es sich auch „zur Gewissens—
sache, bis an die äußerste Grenze der Möglichkeit zu gehen, um ohne
alle Parteiunterschiede den Reichstag geschlossen an der Seite der Reichs—
regierung zu halten“. Ein verwandtes Bemühen legte er in der
inneren Politik an den Tag. Er verdankte den Sinn dafür seiner
guten nassauischen Bürgerbildung und nächstdem seinen Erfahrungen
bei der Arbeit in den Kommissionen. Als er vollends im Laufe der
8Oer Jahre in den heimatlichen Kreistag und Kreisausschuß, in den
Kommunallandtag des Regierungsbezirks Wiesbaden, sowie in den
Provinziallandtag und Provinzialausschuß von Hessen-Nassau gewählt
wurde, ward ihm der nähere Einblick in die Selbstverwaltung ein
vorzügliches Korrektiv für manche der Staatsverwaltung noch abholde
Meinung. Seine Reden der 90er Jahre sind von konservativer Rück
sicht auf die Staatsbehörden erfüllt, seine Arbeit in dieser selben Zeit
diente ebenso unablässig dem Zustandekommen aller größeren Regierungs—
vorlagen, soweit ihm seine politische Üüberzeugung die Mitwirkung nicht
verbot. Eine ungewöhnliche Sachkenntnis und eine nicht geringere
Gewandtheit in den Geschäften begünstigte ihn.
Zu dieser Mittlertätigkeit ward Lieber nicht nur durch taktische
Überlegungen bestimmt; vorzüglich ein hoher sachlicher Gesichtspunkt
orientierte seine Politik. Wesen und Geist der Reichsverfassung war,
als Lieber an Windthorsts Stelle trat, noch strittig und biegsam. Für
alle Beteiligten, ob es nun die verbündeten Regierungen oder der
Reichstag, die einzelnen Staaten oder einzelne Parteien waren, lag
darin eine Gefahr. Windthorst hatte in dieser Erkenntnis von An—
fang an betont, daß der Wortlaut der Reichsverfassung nicht als Stück
Papier gelten dürfe; sie müsse als „die Grundlage des Reiches“ ge—
achtet werden, „so wie es geworden“, wie es entstanden ist. Lieber
eignete sich den Satz an. Zumal Einmischungen in die inneren Ver—
hältnisse der Bundesstaaten, wozu besonders die Mecklenburgische Ver—
fassung und seit 1898 Lippe reizte, schienen ihm ausgeschlossen. Der
Einzelstaat unterliegt nicht der Souveränität des Reichs. Reichsrecht
geht nicht vor Landesrecht, und der Reichstag darf nach der Über—
zeugung vieler nicht einmal die Initiative ergreifen, um die Reichs—
gesetzgebung in Kompetenzen, die ihr noch nicht zugewiesen sind, zuständig
zu machen. Hingegen muß von den Einzelstaaten erwartet werden, daß