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schauungen der Partei noch nicht genügend weit entwickelt. Sie mußten
sich noch weiter entwickeln, um das Postulat der deutschen Rechtsein—
heit in der dem Reichstag dargebotenen Form als verwirklicht an—
zusehen. Das Eherecht des Entwurfs legte die Zivilehe als gesetzliche
Norm fest. Sie war 1875 während des Kulturkampfs in die Gesetz—
gebung des Reichs eingeführt worden, und sie stand im Widerspruche
zur kirchlichen Lehre. Anderseits entsprach sie den tatsächlichen Ver—
hältnissen Deutschlands. Auch hier gelang es den leitenden Männern
der Partei, Klarheit im Urteil ihrer Fraktionsgenossen zu schaffen,
und um so eher, als es sich bei der Zivilehe nicht um die erste Ein—
führung eines mit der Kirchenlehre disharmonierenden gesetzlichen Zu—
stands, sondern um die Kodifikation schon geltenden Rechts handelte.
Die Fraktion wurde fähig, zum Abschlusse „einer der ehrenvollsten
Aufgaben“ mitzuwirken, „die jemals Deutschlands Reichstag hat be—
schieden werden können und jemals wieder an ihn herantreten kann“.
In der Kommission häuften sich die Schwierigkeiten bis zum
Schlusse. Mit den Konservativen war zu guter Letzt auch in diesem
Falle ein Auskommen nicht zu finden. Ein Bruchteil ihrer Mit—
glieder beantragte den Ersatz der obligatorischen durch die fakultative
Zivilehe. Der aussichtslose Vorschlag konnte nur dazu dienen, das
Urteil der katholisch gläubigen Christen draußen im Lande über das
Zentrum zu beirren. Andere Hemmnisse von ihrer Seite folgten.
So verbanden sich Bennigsen und Lieber. Nationalliberale und Zen—
trum arbeiteten ein Kompromiß aus, wodurch die eherechtlichen Be—
stimmungen des Gesetzbuchs eine Form erhielten, die für das katho—
lische Gefühl weniger empfindlich und gegen die kirchliche Lehre rück
sichtsvoller war, und worin hinwiederum das Zentrum auf dem Gebiete
des Rechtes der Vereine den Nationalliberalen nachgab. Gegen Ende
der Kommissionsberatung wurde die Tatsache des Kompromisses be—
kannt. Es kam darauf an, den Reichstag nicht voneinander zu lassen,
ehe das Werk durch die zweite und dritte Lesung gegangen war.
Der Hochsommer nahte. Die radikalen Parteien und die Konservativen
sträubten sich dagegen. Die Kompromißparteien aber blieben fest.
Die zweite Lesung begann am 20. Juni. Sorgfältig vorbereitet, ver⸗
lief sie glatt, und als am 1. Juli auch die dritte Lesung beendigt
war und die Gesamtabstimmung erfolgen sollte, erhob sich Lieber, um
in feierlicher Weise zu erklären, daß seine Freunde trotz ihrer Vor⸗
behalte gegen einzelne Teile des Gesetzbuchs für das Ganze stimmen