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der ihr im Reichstag den Vorwurf des Automatischen eintrug, ent
sprang wohl hieraus. Sie war nicht organisch vom Standpunkt der
Reichsverfassung aus gedacht. Sie gab sich keine Rechenschaft darüber,
daß hinter den steten Schwankungen und der überraschen Steigerung
des Reichsetats ein tieferer Fehler steckte, der die für ihre Zeit so gut
erdachte Franckensteinsche Klausel ihrer Wirksamkeit beraubte: Das
Verhältnis des Reiches selber zu den Einzelstaaten war seit 1879 ein
vollkommen anderes geworden, das Reich von 1894 nicht mehr das
von 1879 — die Verknüpfung des Reichs mit den Einzelstaaten hatte
sich dennoch nicht gelöst.
Auch taktisch führte Miquel seine Vorlage ungeschickter ein, als
die Parlamente es von ihm gewohnt waren. Unmittelbar vor der
ersten Lesung seines Entwurfs im Reichstag brachte er ihn im Land—
tag zur Erörterung und machte für ihn die Konservativen, das Zen⸗
trum aber gegen sich mobil. Für dieses stand die von seinen Führern
herrührende Franckensteinsche Klausel, vor allem ihr föderativer Wert
in Frage. Lieber war Caprivi in jenen Wochen wegen des russischen
Handelsvertrags unentbehrlich. Er persönlich fühlte sich in Finanz—
fragen außerordentlich beschlagen und als selbständiger Budgetpolitiker.
Hatte er bisher nur am preußischen Etat mitgearbeitet, so siedelte er
jetzt in die Haushaltskommission des Reichstags über, um ihr fortan
den Hauptteil seiner Kraft zu widmen. Im Abgeordnetenhause
antwortete er dem Minister sofort, und am 29. Januar sprach
er im Reichstag über die Reform. Aber beide Male verbreitete er
sich nur lehrreich über den Sinn der Klausel, erkannte die Not—
wendigkeit an, daß das Finanzverhältnis von Reich und Einzel—
staaten verbessert werde, und verriet, daß er sich mit einer eigenen
Reformidee trage, die an erster Stelle die Tilgung der Reichsschuld
erstrebe. Alles das trug er akademisch unter mancher Höflichkeit für
Miquel vor. Ernstlich ging er an die Finanzreform nicht heran, sondern
bezeichnete den Zeitpunkt und ihre Verquickung mit einer Deckungs⸗
vorlage als ungeeignet. Der Abgeordnete Richter scherzte darüber:
„Herr Lieber hat in seiner Rede dem Herrn Finanzminister mehrmals
freundlich die Hand gedrückt. Er hat das in der feierlichen und zere—
moniösen Weise getan, die ihm in seinen Reden zu eigen ist. Aber
ich habe bei allen diesen Händedrücken kein Geldstück in der Hand
des Herrn Lieber gesehen, und das ist es doch eigentlich, worauf es
dem Herrn Finanzminister ganz allein ankommt.“ Lieber blieb dabei,