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Dritter Abschnitt. Übernahme der Parteiführung. Schulgesetz und Wehrvorlage. 1888-1893

Full text: Ernst Lieber als Parlamentarier / Spahn, Martin (Public Domain)

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an zum Hauptorgan des Reichs gemacht worden. Es brauchte also 
nicht aufzufallen, wenn er sich von dem sozialen Geiste, der der Lebens⸗ 
saft des Reichsorganismus geworden war, immer allseitiger erfüllen 
ließ und sich im Gefühl der großartigen Wachstumsvorgänge im Innern 
des Reichs einhellig der Sozialreform annahm. Die sozialpolitischen 
Anschauungen aller Reichstagsparteien bildeten sich damals ungewöhn⸗ 
lich schnell weiter. 1884 war Freiherr von Stumm für mehrere Jahre 
aus dem Reichstage ausgeschieden. Selbst er konnte trotz seiner frühen 
und lebhaften Neigung zur Sozialpolitik, als er 1887 zurückkehrte, von 
Lieber mit einiger Wahrheit als in seiner Sozialpolitik rückständig ge— 
worden, „gewissermaßen als ein Gespenst vom Jahre 1878“ bezeichnet 
werden. Das Bewußtsein dieser fortschrittlichen Entwickelung gab den 
Reichstagsmitgliedern allgemach unter sich ein Solidaritäts- und ein 
gewisses Überlegenheitsgefühl über die anderen deutschen Parlamente. 
Der Abgeordnete aber, der die sozialen Zentrumsanträge nach ihrer 
politischen Seite hin verfocht, empfand jenes Gefühl am stärksten. Er 
verwuchs in ihm geradezu aus dem engeren Gebinde seiner Fraktion 
heraus mit dem „sozialen“ Reichstag. Das überzeugte „Wir, der 
Reichstag“ tönte zum ersten Male im Dezember 1889 aus seinem 
Munde, dem Freiherrn von Stumm entgegen. 
Den Schwerpunkt seiner Wirksamkeit verlegte Lieber in diesen 
Jahren in die außerparlamentarische Arbeit. Die in Funktion befind⸗ 
liche Verfassung der Zentrumspartei im Lande war den Richtlinien 
des Parteiprogramms und der inneren Entwickelung des Reichs unvoll⸗ 
kommen gefolgt. Sie wurde von der Kulturkampfsidee beherrscht; die 
soziale und föderative Idee sickerte langsam in sie ein. Da begriff 
Lieber, daß sich 1890 die Gelegenheit bot, eine neue, in die veränderten 
Bedingungen hineingeborene Organisation der alten zur Seite zu 
pflanzen, ohne dieser wehe zu tun. Er half dazu, in München⸗ 
Gladbach den „Volksverein für das katholische Deutschland“ zu gründen. 
Der neue Verein sollte sich der Pflege des sozialen Verständnisses 
und der sozialen Tätigkeit innerhalb der Wählerscharen des Zentrums 
widmen. Frei von partikularistischen Banden wurde er als Verein 
für das Reich geschaffen. Lieber machte sich unter außerordentlichen 
Anstrengungen zu seinem Hauptredner und Hauptwerber, ohne daß 
er die geringste Entschädigung dafür nahm. Es lohnte ihn die Zu— 
versicht, daß sich das Zentrum nach einigen Jahren in seiner ge— 
samten Organisation von der Spitze herab bis tief in die Massen
	        
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