staltete. Der Liberalismus, der in Süd- und Westdeutschland am
frühesten und breitesten Wurzel geschlagen hatte, war nach seiner Her—
kunft und durch jahrzehntelange Entwickelung von dem westlichen Europa
und dessen Parteigestaltung abhängig, auch in Hinsicht auf die Reichs—
verfassung unitarisch gesinnt; neuerdings schien zwar die selbständige
Gruppe seiner niedersächsischen Anhänger durch die Ereignisse des
letzten Jahrzehnts das Übergewicht in ihm zu erlangen, doch stand
ihre werbende und organisierende Fähigkeit bei dem fein konstruierten
Wesen ihres Führers Bennigsen in Frage. Die Konservativen Preußens
waren im Partikularismus befangen; ihre freikonservativ-reichspartei⸗
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angesehener Männer als durch eine Bewegung im Volke herbeigeführt
gelten. So blieb also Raum für die Bildung einer Partei, die un—
gebunden durch Traditionen auf den Boden des Reiches trat und
unbeengt durch doktrinäre oder radikale Gesichtspunkte seinen noch nicht
oorauszusehenden Bedürfnissen sich anzupassen vermochte. Das Zentrum
hielt sich die Aussicht frei, zu dieser Partei zu werden, indem es die
Idee des Föderalismus im Sinne eines Ausgleichs zwischen Reichs—
und einzelstaatlicher Entwickelung und die Idee staatlicher Sozial⸗
politik gegenüber der sich soeben organisierenden Sozialdemokratie in
sein Programm aufnahm. Einstweilen freilich widmete die Partei alle
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Staat. Das verführte sie auch dazu, den Schwerpunkt ihres Partei—
lebens für die nächsten Jahre in die Einzellandtage als die Haupt⸗
stätten dieses Kampfes zu legen, sich also vom Reich und Reichstag
zu entfernen. Mancherlei Tendenzen und Personen setzten sich da—
durch in ihr fest, die es ihr späterhin notwendig erschwerten, zu jener
vom konfessionellen und partikularistischen Wesen freien Reichspartei
sich durchzubilden.
Ernst Lieber war der Zentrumsfraktion von Anfang an bei—
getreten. Er wurde von den Westerwäldern sogleich mit dem Früh—
jahr 1871 auch in den Reichstag als ihr Vertreter geschickt. Einige
Zeit hielt er sich als jüngstes Mitglied der Fraktion zur Seite. Von
1873 jedoch, als die Beratung der Maigesetze ein zahlreicheres Auf—
gebot von Zentrumsrednern als gewöhnlich empfahl und auch im
Lande draußen mehr Versammlungsredner verlangt wurden, trat er
als Redner mit einem Male in die erste Reihe. Bei der Höhe, auf
der nach seinem Gefühl und in der Tat die Kunst der Rede damals