—
den Liberalen freie Hand im Innern gab und jetzt an Stelle der
Habsburger an die Spitze aller deutschen Staaten trat, daß anderseits
die Kirche im letzten Juli das Dogma von der Unfehlbarkeit verkündet
hatte, drohte den Kampf nunmehr allgemein zu machen. Sorge darum
veranlaßte am Vorabend der Landtagssession ungefähr ein halbes
Hundert Abgeordneter, die der katholischen Minderheit in Preußen
angehörten, sich gemeinsam zu beraten. Mancherlei Preß- und Wahl⸗
erörterungen der vergangenen Monate legten ihnen nahe, eine neue
politische Partei zu bilden, um den Katholiken beizeiten eine brauchbare
Verteidigungsstellung zu schaffen. Darauf einigten sie sich am Abend
des 13. Dezember in der Tat. Doch vermieden sie es, der neuen Partei
im Hinblick auf ihren nächsten Zweck ein konfessionelles Programm
zu geben. Es war allerdings in der Presse Stimmung dafür gemacht
worden, und das 19. Jahrhundert hatte mehrfach konfessionelle Partei—
bildungen entstehen sehen. Sie aber ließen sich durch einen im Oktober
zu Soest entworfenen Wahlaufruf westfälischer Katholiken auf eine
breitere Grundlage der Parteibildung hinweisen: die sozialen und
föderativen Probleme des nationalen Staats und der nationalen Ge—
sellschaft wurden ebenmäßig neben den kirchlichen unter die Aufgaben
der Parteibetätigung eingereiht. Man nannte die Partei „Zentrum
Verfassungspartei)“.
48 Mitglieder des Abgeordnetenhauses traten dem Zentrum sofort
bei. Sie kamen aus den verschiedenartigsten Landesteilen, Gesellschafts—
und Bildungskreisen, öffentlichen Arbeitsgebieten und politischen Lagern.
Sie waren teils Laien, teils Geistliche, Verwaltungs- und richterliche
Beamte, Männer der freien Berufe, Gewerbetreibende und Bauern,
schlesische Magnaten, westfälische Adlige, rheinische Bürgerliche, Alt—
preußen und Angehörige der 1814 und 1866 erworbenen Provinzen.
Alsbald nach ihrer Konstituierung trat die Fraktion in die Agitation
für die Wahlen zum mittlerweile geschaffenen deutschen Reichstag
und ging mit 57 Mitgliedern aus ihnen hervor. Dadurch wurden
die Elemente, aus denen sie sich bildete, noch mannigfaltiger, und es
läßt sich kaum verkennen, daß die gemeinsame Sorge um das Recht
ihrer Kirche das vornehmste Bindemittel war, das sie einstweilen zu—
sammenhielt. Dennoch waren die parlamentarischen Bedingungen für
ihr zukünftiges Verschmelzen und Wachstum günstig. Die bisherigen
Parteien Deutschlands standen in wichtigen Programmfragen im Wider⸗
spruch zu der Natur des jungen Reichs, wie Bismarcks Wille es ge—