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Bedarfsversorgung erwachsen können. Die Armee kann in kritischen
Zeiten nicht ernährt werden ohne eine kräftige Produktenbörse und
einen kapitalkräftigen Getreidehandel*. Und so soll denn auch die
Anregung zur Wiederherstellung der Produktenbörse mit von der
Kriegsverwaltung ausgegangen sein %). Gerade im vorigen Jahr waren
wir wieder, wie schon oben erwähnt, in gefährlicher Weise von Vor-
räten entblößt. Da bei der Verwickelung der politischen Konstellation
eine Absperrung unserer Küste durchaus nicht ausgeschlossen schien
und unsere heimische Ernte sich infolge der ungünstigen Witterung
ziemlich verspätete, so lag ganz offenbar die allergrößte Gefahr vor,
daß die Versorgung unseres Vaterlandes und vor allen Dingen des
Heeres mit dem nötigsten Brot- und Futtergetreide nicht hätte be-
werkstelligt werden können®). Dieser Umstand allein sollte schon
genügen, die Unhaltbarkeit des jetzigen Zustandes zu erweisen.
Die Wirkungen des Börsengesetzes haben sich überhaupt noch
nicht in vollem Maße zeigen können, da das letzte Jahrzehnt in
Bezug auf die Ernteergebnisse ziemlich normal verlaufen ist, aber
doch haben sich schon Verhältnisse ergeben, die vom volkswirtschaft-
lichen Standpunkt als gefährlich angesehen werden müssen, und eine
Revision des Börsengesetzes sollte daher auch dem Getreidehandel
wieder die Stelle in der Volkswirtschaft zuweisen, . die er vermöge
seiner wichtigen Aufgabe zu beanspruchen hat.
VII. Börsenreform.
Seitens der Regierung hatte man bald eingesehen, daß die durch
das Börsengesetz geschaffenen Zustände auf die Dauer nicht haltbar
seien, wenn sie auch immer mit den politischen Machtfaktoren im
Parlament rechnen mußte und so nur einen vermittelnden Stand-
punkt einnehmen konnte. Wir sahen schon, wie sehr sich das Inter-
esse der Regierung an der Wiederherstellung der Berliner Pro-
duktenbörse zeigte und hier tatsächlich ein kleiner Erfolg errungen
wurde. Aber doch mußte man erleben, daß das mühsam wieder
aufgebaute Werk durch die Rechtsprechung bald aufs gefährlichste
bedroht wurde.
Das Bestreben, sich durch Erhebung des Registereinwands aus
3 66 BG., des Einwands der verbotenen Termingeschäfte aus $ 50
und 51 BG. und des Differenzeinwands aus $ 764 BGB. einge-
gangenen Verpflichtungen zu entziehen, erfaßte immer weitere Kreise,
und die Einwände wurden von Personen ausgenutzt, die eines be-
sonderen Schutzes sicher nicht bedürfen und für die er überhaupt
nicht bestimmt war%. Der Gesetzgeber konnte kein größeres Fiasko
erleiden, als mit dem Abschnitt IV des Börsengesetzes über den
Vgl. Gutachten des Börsenausschusses vom 11. und 12, Juni 1901.
_ Ebenda.
3) Vgl. Berliner Jahrbuch 1905, I, S. 276 ff.
4) Begründung zur Börsennovelle (Drucksachen des Reichstags No. 244, Anlagen
Bd. 2, 11. Leg.-Per. 1. Session).