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ordentlich groß. Aus allen Ständen wandte man sich an sie, um
Trost in Gemütsleiden, oder Hülfe in Bedrängnissen zu suchen;
fast jedermann hatte Zutritt zu ihr und schied mit dem Gefühl,
eine teilnehmende Beschützerin gefunden zu haben. Ich bin nie mit
ihr ausgefahren, daß nicht die ganze Treppe bis zum Wagen mit
Menschen besetzt gewesen wäre, die sie sehen wollten; kein
Spaziergang, der ihr nicht mehrere Taler gekostet hätte, denn kein
Bittender wurde unbeschenkt entlassen. Hierin konnte man den An⸗
fang jener großartigen Wohltätigkeit sehen, die, zuerst vom Hofe
ausgehend, sich nach und nach über Stadt und Land verbreitet hat,
leider bis jetzt ohne sehr segensreiche Spuren zu hinterlassen.
Man suchte damals auch die Prinzessin als deutsche Frau an
die Spitze eines Strebens zu setzen, das ein eigentümlich deutsches
Wesen als Gegensatz zu allem französischen bei uns hervorrufen
sollte. Sprache, Kleidung, Gewohnheiten, alles wünschte man eigen⸗
tümlich deutsch zu gestalten, aber der Versuch gelang nicht ganz
und endete in einigen etwas verunglückten Kleidern und Kopf—-
bedeckungen, die bald wieder verschwanden; nur die Prinzeß, die
Sinn und Gedanken in alles hineinlegte, das Romantische und
Altertümliche überall gern aufsuchte, wußte ihr Leben lang gewisse
Reste davon zu bewahren, die später oft in Unzier ausarteten, als
ihre große Schönheit sie nicht mehr überragte.
Als Tochter eines süddeutschen Fürstenhauses hatte sie auch
schon andere deutsche Ideen, als damals bei uns zur Sprache
kamen. So äußerte sie sich einmal ziemlich tadelnd über alles, was
man vom Wiener Kongreß hörte und sagte sehr erregt: „Nun, das
sollen nur die Herren nicht sagen, daß sie an Deutschland denken
eim jeder denkt doch nur an sich selbst; sie sollten es nur wenigstens
gerade heraussagen!“ Mir war dies nicht recht klar, da jeder kleine
deutsche Fürst in seinen unsäglichen Ansprüchen mit Land und Leuten
bedacht wurde — und wie ein ganzes Deutschland könnte hergestellt
werden, ohne namentlich Preußen zu gefährden. Ein Kaiser und
Reich, dem sich Preußen hätte unterordnen müssen, war nicht recht
denkbar — Preußen als Kaisertum und sterreich beseitigt, noch
Vom Leben am preußischen Hofe. (5) 65
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Deutsches
Fühlen
der Prinzeß
Wilhelm
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