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Erziehung
und
Unterricht
Der Ratio⸗
nalismus
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Für den übrigen Tag hatten die Gouvernanten zu sorgen.
Diese pflegten aber außer dem pflichtmäßigen Spazierengehen nur
an sich zu denken, und ich kann mich nicht erinnern, daß, wenn ich
mit meinen Stunden und den kleinen Arbeiten für sie fertig war,
mir je eine ein Mittel der Unterhaltung oder Beschäftigung, sei es
ein Buch, eine Arbeit, oder sonst etwas außer dem leidigen Strick⸗
zeug geschafft hätte. Und doch glaube ich nicht, mich gerade unter
die Zahl der ignorantesten oder unentwickeltsten der Frauen rechnen
zu müssen. Es blieb mir also überlassen, dies in dem Kreise der
Erwachsenen zu suchen, der durch die Schicksale des Lebens sich
immer mehr verengte und nach und nach seine Richtung auf das
lenkte, was die Welt bewegte und die Sorge für Gegenwart und
Zukunft der aufwachsenden Familienglieder bedingen mußte. Um
indessen das Kapitel der Erziehung zu vollenden, will ich noch des
damaligen Religionsunterrichts gedenken.
Das Ende des vorigen Jahrhunderts war wohl die Haupt⸗
periode des nicht einmal tief fundierten Rationalismus. Der
Prediger, der eine gute Moral predigte, stand sehr hoch. Auf dem
Lande herrschten in bezug auf die Geistlichkeit die ungünstigsten Zu—
stände. In Friedersdorf wenigstens pflegte mein Bruder, wenn
er des Beispiels wegen in die Kirche ging, ein Predigtbuch mit⸗
zunehmen; er las darin, um nicht zu hören und sich doch erbauen
zu können. Dazu waren die Schullehrer gewöhnlich alte Schneider,
also blieben Schul- und Religionsunterricht für den Landbewohner
wahrlich von der geringsten Bedeutung. Und doch lebte unter den
Leuten von alters her eine Gottesfurcht und Sitte, die alle Bestrebungen
der Neuzeit, von den besten Lehrern und Geistlichen unterstützt, noch
nicht wieder aus ihrem Verfall emporzuheben imstande sind. So er⸗
innere ich mich (ohne daß ich den Zusammenhang verstand) der un⸗
saglichen Tränen, Schelten, Ärgernisse bei dem einzigen Beispiel einer
Trauung, wo die Braut ohne Kranz in die Kirche gehen mußte, und
wie selten wird er jetzt auf dem Lande noch mit Necht aufgesetzt.
Das ruhige Fortleben in alten, unangefochtenen Verhältnissen
mochte sowohl die Beziehungen von den Herrschaften zu ihren
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