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Die Großstadtgesellschaft.
linerin hat Manches gelernt im Laufe der Jahr-
zehnte. Aber wenn sie die Toilette zusammen-
stellt, so blickt sie nach Paris, London, Amerika
oder Wien. Und der männliche Hauptstädter
macht es nicht anders. Man trägt in Berlin
amerikanisches oder französisches Schuhzeug,
Pariser Hüte und Abendkleider, englische Klei-
derstoffe und Kleiderschnitte, Wiener Hüte und
japanische Schals. Die Herren lassen sich den
Bart englisch schneiden und die Damen schmin-
ken sich pariserisch, auch wenn sie es nicht
nötig haben. Alles Lokale und Nationale ist in
Berlin längst verschwunden. Es ist in der
Reichshauptstadt von vornherein der Ehrgeiz
aller niederen Volksklassen, alle Bestandteile
ihrer ländlichen Tracht von sich zu tun und
in dem Großstadteinerlei unterzugehen. Der
Handwerksgehilfe schämt sich, im Arbeitsrock
über die Straße zu gehen, und das Berliner
Dienstmädchen hat jede uniforme Haustracht ab-
gelehnt. Wo man sich in anderen Städten der
reinlich hellen Dienstbotentracht freut, da tritt
Einem in den Berliner Häusern der Mittelklasse
ein charakterlos in Rock und Bluse gekleidetes
Geschöpf entgegen, das als Dienstmädchen nicht
zu erkennen wäre, wenn es nicht zu schmutzig
wäre, um als Hausfrau oder als Tochter des
Hauses gelten zu können.
Hoffnungsloser noch erscheinen Einem die Zu-
stände der Reichshauptstadt, wenn man ihre Eß-