Die Großstadtgesellschaft. 217
so unverhüllt zur Schau, wie es Menschen ohne
Erziehung nur immer können. Dabei sind sie
aber nicht etwa von heißer erotischer Leiden-
schaft entflammt. Im Gegenteil, sie haben viel
zu viel zu tun, um der Liebe viel Zeit, Gedanken,
Empfindungen und feineres Interesse widmen
zu können. Sie lieben halb geschäftsmäßig. Sie
knausern und feilschen um die Befriedigung ihres
Sexualtriebes wie Makler. Aber gerade weil es
in ihrem Leben nicht eine bestimmte Stunde
gibt, die der Liebe gehört, weil es nicht die
feinere großstädtische Kultur des zärtlichen Ver-
hältnisses gibt, das in Wien und Paris Ausgangs-
punkt einer ganzen Literatur geworden ist,
weil nichts kachiert, nichts mit Poesie um-
geben, sondern weil alles mit geschäftsmäßiger
Empfindungslosigkeit betrieben wird, verläßt
den Berliner das erotische Begehren eigentlich
in keinem Augenblick. Und wie der Mann, ist
dann natürlich die Frau, Wie sie brutal begehrt
wird, so bietet sie sich als bezahlte Geliebte ge-
schäftsmäßig kalt und gemein an. Nirgend in
einer Hauptstadt ist die Prostituierte so ohne
Anmut wie in Berlin. Sie zieht sich schlecht
an, ist in ihrem Benehmen unfein, ohne alle
Bildung und sagt die schamlosen Dinge, die zu
ihrem traurigen Beruf gehören, mit einer nüch-
ternen Sachlichkeit, die etwas Schreckliches hat.
Sie mag sich gebärden wie sie will: immer merkt
man ihrer schlecht geschminkten Eleganz die