Die Gesellschaft.
123
chene Handelsstadt, keine Industriestadt und
keine Universitätsstadt; es war, vor allem im
siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, von
Allem immer etwas, eine Filiale gewissermaßen
aller Interessen des Mutterlandes. Daher findet
man im alten Berlin nicht ein Patriziat von
Handelsherren, die ihren Beruf und damit eine
Berufsidee auf Söhne und Enkel vererben; es
gibt nicht einen alten angesehenen Geistesadel,
keine Gelehrtendynastien und auch nicht große
Kapitalisten mit beherrschendem Einfluß. Es
fehlte die Stetigkeit in allen Bürgerbeschäftigun-
gen. Darum hatte das Bürgertum selbst am An-
fange des neunzehnten Jahrhunderts noch kein
bestimmtes Profil. Dann erst machen sich in
der Folge ein paar typische Züge bemerkbar.
Man sieht ein biedermeierlich beengtes Bürger-
tum entstehen, in dem ein zugleich liberaler und
loyaler Geist herrscht, dessen Familienleben
nüchtern und unliebenswürdig ist. Dieses Bürger-
tum war nicht gemacht, große Männer hervorzu-
bringen; aber es brachte gute Soldaten hervor,
zähe Arbeiter und furchtlose Unternehmer. Sein
größter Fehler war, daß es nicht zu herrschen
verstand, und daß sein Existenzwille sich nicht
zum Kulturwillen auszuweiten vermochte. Ob
es sich loyal gab oder ein wenig Revolution
machte, gedrängt von den Umständen der Zeit,
ob es hurrahte, demokratisch schimpfte oder
auch beides zugleich tat: zur Selbstaristokrati-