Die Künste.
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Auch Musset und Beranger, Corneille, Racine
und Moliere geben sich gleich als echte Pariser
zu erkennen. Aus Shakespeares Stücken selbst
weht uns die spezifische Renaissanceluft Lon-
dons an; und es gibt kaum einen österreichi-
schen Poeten, dessen Werke nicht von der
reichen Atmosphäre des Wienertums wie mit
einem Pleinair umgeben wären. Gibt es also
selbst einen Wiener Stil in der deutschen Litera-
tur: einen Berliner Stil gibt es nicht. Auf diesem
Vorwerk des Deutschtums sind Dichter nicht
erzogen worden. Sehr spät erst, im neun-
zehnten Jahrhundert, hat Preußens Hauptstadt
ein paar Historiographen gefunden. Aber das
sind Epigonen. Willibald Alexis, der Scottnach-
ahmer, dichtete nicht aus seiner Gegenwart, aus
der Fülle des hauptstädtischen Lebens heraus,
sondern griff, künstlich rekonstruierend, in eine
dunkel nur überlieferte Vergangenheit zurück,
mit romantischer Empfindung eine nur halb
glaubhafte historische Bilderwelt aufbauend. Er
erlebte nicht seine Vaterstadt, sondern diente,
wenn auch ehrlich und klug, so doch mit sub-
alterner, verstimmender Absichtlichkeit einer pa-
triotischen Geschichtsidee. Und einem ganz mo-
dernen Chronisten Berlins wie Theodor Fontane
fehlte durchaus das Gestaltungsvermögen, das
ungeheure Chaos der neuen Großstadt zu schil-
dern. Er kommt als Plauderer, wo es des
schöpferischen Temperaments bedürfte, als ein