Dritter Vortrag. Die Anwendung der Deszendenztheorie auf den Menschen.
mehr zu merken. Dort erscheinen ohne jene Rekapitulation gleich
die endgültigen hakenförmigen Thorakalanhängel.
Ich könnte Ihnen noch eine Reihe solcher Beispiele vorführen, aber
das Gesagte dürfte genügen, um Ihnen zu zeigen, daß es wirklich Fälle
gibt, in denen die individuelle Entwicklung uns ganz klare Finger-
zeige liefert für die Richtung, wo die ehemaligen Stammesahnen zu
suchen sind. Um jedoch ein derartiges Stadium erklären zu dürfen
im Sinne einer Wiederholung eines hypothetischen Ahnenstadiums,
muß die Erklärung eindeutig sein, d. h. jede andere Erklärung
muß ausgeschlossen sein. Ich glaube nun aber, daß in der Onto-
genie des Menschen kein solches Stadium sich befindet. Deshalb
sage ich: man kann aus der individuellen Entwicklung des Men-
schen keinen Beweis schöpfen, der für seine tierische Abstammung
in einer Weise spricht, die naturwissenschaftlich als überzeugend
gelten könnte.
Eine dritte zoologische Beweisquelle, aus welcher die tierische
Abstammung des Menschen erhärtet zu werden pflegt, sind die
rudimentären Organe, d. h. solche Organe, die ehemals be-
stimmten Funktionen gedient haben, später aber als nutzlos rück-
gebildet wurden und in verkleinertem oder verändertem Zustande
übriggeblieben sind. Nun muß man sich allgemein wohl vor Augen
halten, daß nur allzuhäufig der Fehler gemacht worden ist, Organe,
die man nicht erklären konnte, als «rudimentär» hinzustellen. Ge-
trade beim Menschen hat sich wiederholt herausgestellt, daß früher
als rudimentär bezeichnete Organe bestimmte biologisch wichtige
Funktionen ausüben. Ich erinnere an die Schilddrüse, die Thymus-
drüse, die Zirbeldrüse. Von letzterer ist durch Cyon nachgewiesen,
daß sie ein wichtiges Gleichgewichtsorgan ist. Aber es gibt doch
gewisse rudimentäre Organe, die man so nicht erklären kann, Dahin
technet man bisher den Wurmfortsatz des Blinddarms (Processus vermit-
formis), der so oft zur Blinddarmentzündung Anlaß gibt. Die Vor-
fahren des Menschen, so sagt man, hätten einen viel längeren Darm
gehabt, der Wurmfortsatz sei der Rest davon. Innerhalb der Art
Mensch kann von dem ursprünglichen Stadium bis zur Gegenwart
eine allmähliche Verkümmerung eines bestimmten Darmteiles ein-
getreten sein, z. B. durch Wechsel der Nahrung. Wir wissen, daß
die Pflanzenfresser einen viel längeren Darmkanal haben als die
Fleischfresser. Durch Übergang von der Pflanzenkost zur Fleisch-
‘ Vgl. Die Thorakalanhänge der Z7ermitoxentidae. Verh. d. Deutsch, Zoolog.
Gesellsch. 1903, S. 113—120 und Taf. II u. IN); «Die moderne Biologie»? S. 300— 2302.