Erster Teil. Vorträge über das Entwicklungsproblem.
Gesetz mehr. Es gibt tatsächlich Fälle bei den höheren und
den niederen Tieren, in denen sich individuelle Entwicklungsstadien
finden, die wir nur erklären können als vorübergehende Reste eines
ehemaligen Entwicklungsganges, der bei gewissen Vorfahren dauernd
eingeschlagen worden war. Als Beispiel führe ich hier die Zähne an.
welche die Embryonen der Bartenwale gegenwärtig noch besitzen.
die später rückgebildet werden zu den sog. Barten, die das Fisch
bein bilden. Es hat schon Geoffroy St Hilaire am Beginn
des vorigen Jahrhunderts diese Beobachtung gemacht, und Küken
thal hat sie bestätigt. Wenn wir damit nun die andere Tatsache
vergleichen, daß in der Tertiärzeit geologisch die Bartenwale erst
auf die Zahnwale folgen, daß wir letztere also als wahrscheinliche
Vorfahren der Bartenwale anzusprechen haben, dann ist der Schluß
sehr naheliegend: die Bartenwale stammen von ehemaligen Zahn-
walen ab, und der Grund, weshalb heute noch in der individuellen
Entwicklung der Bartenwale ein Stadium eintritt, wo Zähne sich
bilden, liegt darin, weil dieses Entwicklungsstadium bei ihren
Ahnen schon eingeschlagen wurde und bis zu einem bestimmter
Zeitpunkt der Keimesentwicklung auch heute noch immer ein:
geschlagen wird.
Ein ähnlicher Fall findet sich ferner auch in der Entwicklung
einer winzig kleinen, bei den Termiten lebenden Fliege (Termitoxenia)
die Ihnen in den Lichtbildern des ersten Vortrages vorgeführt wurde.
Da sehen wir die eigentümliche Erscheinung, daß in einem be
stimmten (stenogastren) Stadium des bereits erwachsenen Insektes
ganz kurz und vorübergehend in den noch häutigen Thorakal
anhängen ein wirkliches Flügelgeäder auftritt. Ich wollte meinen
Augen kaum trauen, als ich dies zum erstenmal auf meinen Schnitt
serien beobachtete. Später verhornen diese kleinen griffelförmigen
Thorakalanhänge und dienen als Balancierstangen, als Tast- und
Exsudatorgane; mit Flügeln haben diese Gebilde gar keine Ährn
lichkeit mehr. Es handelt sich hier sehr wahrscheinlich um ein
ehemaliges Ahnenstadium zweiflügliger Insekten, das gewissermaßen
rekapituliert wird. Ehemals wurden wirkliche Flügel aus jenen
Rückenanhängen, heute bilden sich die Flügelanlagen zu Organen
um, die ganz andern Zwecken dienen als die früheren Flügel. Weil
aber diese Entwicklungsänderung nicht so weit zurückliegt, darum
sehen wir hier heute noch ein ehemaliges Flügelstadium mit wirklicher
Flügeladerung sich vorübergehend wiederholen, Bei einer andern
Untergattung (Zermzitomyia), die noch weiter vom Dipterentypus
sich entfernt hat, ist von einem derartigen Flügelstadium nichts