Erster Teil, Vorträge über das Entwicklungsproblem.
Ich für meine Person bin der festen Überzeugung, daß die Ent-
wicklungslehre, als naturwissenschaftliche Hypothese und
Theorie betrachtet, keinerlei Widerspruch mit der
christlichen Weltanschauung enthält, mag auch das Gegen-
teil noch so oft behauptet werden.
Wir erwähnten soeben die natürlichen Arten, welche gleich-
bedeutend sind mit den Entwicklungsreihen oder Stammbäumen der
Abstammungstheorie 1. Wie viele oder wie wenige solcher Stammes-
reihen anzunehmen sind, das weiß uns heute noch kein Fachmann
zu sagen. Nach 2000 Jahren werden wir es vielleicht etwas besser
wissen. Ebensowenig kennen wir die hypothetischen Stammformen,
von denen jene Entwicklungsreihen ihren Ausgang nahmen. Auch
über die Gesetze ihrer Entwicklung sind wir noch ganz im dunkeln.
Das sind biologische Probleme, an denen die kommenden
Jahrhunderte weiter forschen müssen.
Ich komme nun zum Schlusse. Wenn wir Gott als Schöpfer
aller Dinge auffassen und annehmen, daß die von ihm geschaffene
Welt sich selbständig und ‚selbsttätig entwickelt habe, so haben wir
sogar eine größere Idee von Gott, als wenn wir ihn überall in die
Naturgesetze eingreifen lassen. Denken wir uns zwei Billardspieler,
die hundert Bälle zu dirigieren haben. Der eine braucht dazu hundert
Stöße, der andere vermag mit einem Stoß alle Bälle zu leiten, wie
er will; der letztere ist doch zweifellos der bei weitem geschicktere.
Schon Thomas von Aquin hat ausgeführt, die Macht einer Ursache
sei um so größer, auf je entferntere Wirkungen sie sich mittelbar
erstreckt. Gott greift nicht unmittelbar in die Naturordnung ein,
wo er durch natürliche Ursachen wirken kann. — Dies ist der keines-
wegs neue, sondern sehr alte Grundsatz, der uns die Entwicklungs-
theorie als naturwissenschaftliche Hypothese und Theorie, soweit sie
wirklich beweisbar ist, mit der christlichen Weltanschauung ganz
und vollkommen vereinbar erscheinen läßt. Nach dieser Auf-
fassung wird die Entwicklung der organischen Welt gleichsam zu
einer kleinen Zeile in dem millionenseitigen Buch der Entwicklung
des ganzen Kosmos, auf dessen Titelblatt auch heute noch mit
unauslöschlichen Lettern geschrieben steht: «Im Anfang schuf
Gott Himmel und Erde»
1 Nähere Ausführungen siehe in «Die moderne Biologie»? S. 303 ff. Die dort schon
widerlegten Mißverständnisse wiederholten sich in der Rede des Hauptopponenten
Prof. Plate am Diskussionsabend.