Erster Vortrag. Die Entwicklungslehre als naturwissenschaftliche Theorie
Gestatten Sie nun noch, daß ich mich für einen Augenblick. auf
den Standpunkt der christlichen Weltauffassung, und zwar auf den
Standpunkt des biblischen Schöpfungsberichtes stelle. Es heißt dort:
Gott erschuf die Tiere und Pflanzen nach ihrer Art (Gn 1, 11—25).
Diese Ausdrucksweise der Bibel ist nicht mit dem Maßstabe der
modernen Zoologie zu messen. Daß die geologische Entwicklung
dem Schöpfungsbericht nicht widerspricht, ist die allgemeine An-
nahme der Theologen. In Bezug auf die Entwicklung der organischen
Welt ist man auch immer mehr zu dieser Ansicht gekommen !. Wir
müssen vor allem festhalten: die Heilige Schrift ist kein
Lehrbuch der Naturwissenschaften im modernen Sinne,
Darum können wir Gelehrte des 20. Jahrhunderts auch nicht zoolo-
gische Aufschlüsse darin suchen! Die Bibel wollte nicht der natur-
wissenschaftlichen Aufklärung dienen, sondern religiösen Heils-
zwecken, wie Leo XII. in seiner schönen Enzyklika Providentisstmus
Deus es ausgesprochen hat? Der biblische Bericht ist abgefaßt
fur das Verständnis und die Auffassung der Menschen aller Zeiten,
unabhängig von den wechselnden Theorien menschlicher Wissenschaft,
Wenn die Heilige Schrift in ihrer großartigen und großzügigen
Schilderung der Schöpfung so schön sagt, durch Gottes Schöpfer-
wort seien aus der Erde und dem Wasser die «Arten» der Pflanzen
und Tiere hervorgegangen, so wollte sie damit keine wissenschaft-
liche Definition des Artbegriffes geben. Der Artbegriff, welchen
Aristoteles als eidoc faßte, ist erst viele Jahrhunderte später aus
einem bestimmten philosophischen Systeme geboren worden. Und
noch viel später ist im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts durch
Ray, Linne und Cuvier jener naturwissenschaftliche Artbegriff ent-
standen, welcher mit der Konstanztheorie so innig verwachsen ist.
Wenn nun die moderne Naturwissenschaft kommt und uns zeigt,
daß wir die systematischen Arten der Gegenwart und der Vorwelt
sehr wahrscheinlich zu genealogischen Stammesreihen zusammen-
fassen müssen, so können wir als Philosophen jene Stammesreihen
als «natürliche Arten» bezeichnen. Aber auch diesen Artbegriff
dürfen wir nicht in den biblischen Schöpfungsbericht hineinlegen,
als ob er in demselben stehe. Wir können nur sagen: wenn dieser
Artbegriff sich bestätigt, so haben wir einen neuen Beweis dafür,
daß der biblische Schöpfungsbericht den Ergebnissen der Natur-
wissenschaften nicht widerspricht.
‘ Vgl. P. Knabenbauer in den «Stimmen aus Maria-Laach» XIIL (1877):
Glaube und Deszendenztheorie; ferner «Die moderne Biologie» ® S, 255 f.
? Vgl. das Zitat in «Die moderne Biologie» 3 S, 446 A. 1.