Erster Teil. Vorträge über das Entwicklungsproblem.
die Beweise; ja sie gehen uns endlich ganz aus, so daß wir schließlich
sagen müssen: die Annahme einer monophyletischen (ein-
stammigen) Entwicklung des ganzen Organismenreiches
ist ein schöner Traum ohne naturwissenschaftliche
Beweise. Ebenso ist auch die Annahme einer monophyletischen
(einstammigen) Entwicklung des ganzen Tierreichs einerseits und des
ganzen Pflanzenreichs anderseits aus je einer Urform nur so ein
schöner Traum. Naturwissenschaftliche Beweise, wie für die
Stammesverwandtschaft der Arten, Gattungen, Familien, haben wir
hierfür nicht. Hier geht uns das Beweismaterial schlechthin aus.
Da wird man mir entgegnen, das seien ja lauter Fleischmannsche
Behauptungen. Nein, auf Fleischmann stütze ich mich hier nicht,
da er in seiner Opposition gegen die Entwicklungstheorie zu weit
geht. Aber darin hat er recht: eine Zurückführung der
Haupttypen des Tierreichs auf eine einzige Grund-
form ist nicht möglich; alle Versuche in dieser Richtung sind
gescheitert. Das sagt nämlich nicht nur Fleischmann, sondern auch
andere, viel gewichtigere Autoritäten. Ich möchte hier ganz besonders
Professor Oskar Hertwig nennen, der im Schlußkapitel seines
ausgezeichneten Handbuches der vergleichenden und experimentellen
Entwicklungsgeschichte in überaus klarer und logischer Weise die
bisherigen Beweise aus der vergleichenden Morphologie und der Ent-
wicklungsgeschichte zu Gunsten der Deszendenztheorie geprüft hat.
Sein Ergebnis lautet: Die Beweise für die monophyletische
Stammesentwicklung versagen gänzlich, wir werden auf
die Annahme einer vielstammigen Entwicklung immer mehr hin-
gedrängt. Ähnlich hat Professor Boveri, der sicher ebenfalls nicht
durch «theologische Vorurteile» beeinflußt war, in seiner letzten
Rektoratsrede an der Universität Würzburg über «die Organismen
als historische Wesen» sich ausgesprochen. Auch er hält die Zurück-
führung sämtlicher Stämme des Tierreichs auf eine einzige Grundform
für unmöglich. Unter den Paläontologen sind besonders Steinmann,
Koken und Diener 1 für eine polyphyletische Entwicklung neuerdings
eingetreten, unter den Botanikern v. Wettstein. Da kann man mir
also nicht entgegnen, ich sei als «Theologe» für die vielstammige Ent-
wicklung eingenommen. Nein, ich bleibe bei meinen Schlußfolgerungen
gerade so zoologisch konsequent wie die oben erwähnten hervorragen-
den Naturforscher, die, ohne Theologen und ohne Jesuiten zu sein, eben-
falls für eine polyphyletische Entwicklung sich ausgesprochen haben.
Paläontologie und Evolutionslehre: Österreichische Rundschau XI (1907), Hft 2.