Erster Teil. Vorträge über das Entwicklungsproblem.
die indirekten. Direkte Beweise sind jene wenn auch schwachen
Spuren von Umbildung der Arten, die wir heutzutage noch wahr-
nehmen, wie sie u. a. der Botaniker Hugo de Vries in seiner
Mutationstheorie nachgewiesen hat. Er zeigte z. B. bei der Pflanzen-
gattung Oenothera, Königskerze, daß hier heute noch neue Formen
entstehen, die sich wie wirkliche Arten verhalten. Anderseits ist
gegen diese Mutationstheorie, und zum Teil nicht ohne Grund, der
Einwand erhoben worden, daß die Mutation nicht von so großer
Bedeutung sei, wie de Vries glaube. So hat z. B. Standfuß bei
seinen zahlreichen Experimenten über Schmetterlingszüchtungen fest-
gestellt, daß die Mutation als artbildender Faktor kaum in Betracht
komme. Auch die fluktuierende Variation, welche die sog. zu-
fälligen Abänderungen Darwins umfaßt, kann nach Standfuß kaum
zur Artenbildung führen. Nach seiner Ansicht sind hierfür nur die
adaptiven Variationen, die auf Anpassung beruhenden Abänderungen,
welche durch bestimmte äußere Ursachen veranlaßt werden und sich
vererben, von wirklicher Bedeutung. Was wir unter Anpassungs-
abänderungen zu verstehen haben, und wie sie zur Bildung neuer
Arten, Gattungen usw. führen können, das werden Ihnen nachher die
Lichtbilder durch Beispiele aus meinem Fachgebiete näher erläutern.
Nun noch ein paar Worte über die indirekten Beweise. Da
geht der Naturforscher, der sich ein Urteil über Entwicklung der
Arten bilden will, wie ein gewandter Staatsanwalt vor, der einen An-
geklagten überführen muß. Bei der Ausübung der Tat, die man dem
Manne zuschreibt, ist niemand zugegen gewesen. Deshalb sammelt
der Staatsanwalt von allen Seiten Indizienbeweise gegen den
Angeklagten, und je mehr sie sich häufen, um so enger zieht sich
die juristische Schlinge um den Hals des Delinquenten zusammen.
50 ist es auch mit den indirekten Beweisen in der Entwicklungs-
theorie. Sie werden geschöpft aus der vergleichenden Formenlehre
Morphologie), aus der vergleichenden Anatomie, aus der verglei-
chenden individuellen Entwicklungsgeschichte, aus der vergleichen-
den Bionomie (Lebensweise), aus der Tiergeographie und nament-
lich aus der Paläontologie. Diese letztere Beweisquelle will ich
durch einige Beispiele gleich erläutern. Es gibt Hunderte von
Ameisenarten, die uns aufbewahrt sind als Fossilien im tertiären
Bernstein der Ostsee und Siziliens. Da finden wir zahlreiche Gat-
tungen vor, die heute noch leben, aber kaum Arten, die identisch
sind mit den unsrigen. Wir werden da schwerlich umhin können
anzunehmen, daß die Ameisenarten der Gegenwart Nachkommen
jener fossilen Verwandten sind, daß sie somit durch natürliche