Erster Vortrag. Die Entwicklungslehre als naturwissenschaftliche Theorie,
Schlußfolgerung, und zwar durch ein sorgfältiges allseitiges Ver-
gleichen der verschiedensten Beweismomente seinem Geist erschließen.
Also eine Erfahrungswissenschaft ist die Entwicklungslehre nicht,
und sie kann es nicht sein. Sie ist ihrem Wesen nach eine Theorie,
die aus einer Gruppe von Hypothesen besteht, die im Einklang
miteinander die wahrscheinlichste Erklärung bieten für die Ent-
stehung der organischen Arten. Wir können wahrlich nicht ver-
langen, in der Gegenwart eine Entwicklung der Arten so vor unsern
Augen erfolgen zu sehen, daß wir die Entwicklungstheorie direkt
bestätigt finden. Die Menschheit ist dafür viel zu spät geboren
und viel zu kurzlebig. Denken wir uns eine Eintagsfliege, die an
einem schönen Frühlingsmorgen zum Leben erwacht ist und nun
fings um sich die Bäume in ihrer Blütenpracht sieht. Daß die
Blüten aus Knospen kamen, die sich allmählich erschlossen, und daß
dann die Blüten ihre Blätter wieder verlieren und zur Frucht werden,
das bleibt ihr in den paar Stunden ihres Lebens völlig verborgen.
Sie würde daher vielleicht versucht sein zu glauben, die ganze
Blütenpracht, die sie umgibt, sei so, wie sie da ist, vom lieben
Gott geschaffen und werde ewig so bleiben. Und doch würde sie
sich schwer täuschen. Selbst als Eintagsfliege würde sie, wenn sie
Intelligenz besäße, doch noch schwache Anzeichen wahrnehmen
können davon, daß es mit der Unveränderlichkeit der Blütenpracht
nicht so ganz stimmt: einige Knospen haben sich in ein paar
Stunden bereits weiter erschlossen, verschiedene Blüten haben in
den paar Stunden einen Teil der Blütenblätter verloren, andere sind
ganz der Blütenblätter beraubt worden. Die sich erschließenden
Blüten sind, um beim Vergleich zu bleiben, jene seltenen Spuren
von Umbildungen der Arten, die wir heute noch nachweisen können
— wenn auch innerhalb verhältnismäßig enger Grenzen. Die ab-
fallenden Blütenblätter sind die aussterbenden Arten, die abgefallenen
Blätter endlich sind die bereits ausgestorbenen fossilen Arten, die
uns vom Schicksal aller organischen Arten auf Erden erzählen: sie
kommen und gehen und machen andern Nachkommen Platz; und
mag ihr Bestand auch Hunderttausende, ja Millionen von Jahren
gewährt haben, wie derjenige mancher Arten der Brachiopoden-
gattung Zzugula, so schlägt doch auch für sie eine erste und
eine letzte Stunde, wie für jeden von uns. Dach lassen wir jetzt
den Vergleich beiseite.
Auf welche Beweise stützt sich die Entwicklungslehre als natur-
wissenschaftliche Hypothese und Theorie? Da können wir vor allem
zweierlei Gruppen von Beweisen unterscheiden, die direkten und