Erster Teil. Vorträge. über das Entwicklungsproblem.
sammenhang zwischen den heute lebenden Tieren und Pflanzen und
den fossilen Organismen, diese Frage ist eine durchaus wissenschaft:
liche; sie ergab sich mit logischer Konsequenz aus den Forschungen
der Zoologie, Botanik und Paläontologie. Das eine also wollen wir
nachdrücklich feststellen: die Entwicklungslehre als naturwissen
schaftliche Hypothese und Theorie ist ganz naturgemäß
entsprungen aus der Weiterentwicklung der Zoologie, Botanik und
Paläontologie.
Was ist demnach der Gegenstand der Entwicklungslehre als
naturwissenschaftlicher Hypothese und Theorie? Wie ich bereits an-
deutete, ist es: erstens, die Reihenfolge der Tier- und Pflanzen-
formen seit dem ersten Auftreten unseres Lebens zu erforschen, welche
Stammesreihen der Arten, Gattungen und Familien wir anzunehmen
haben; zweitens, diese Reihenfolge durch eine natürliche Ent-
wicklung der Arten zu erklären. Das ist also der Gegen
stand der naturwissenschaftlichen Entwicklungslehre: die tatsäch-
liche und .ursächliche Erforschung der organischen
Formenreihen, an deren Spitze die Arten der Gegenwart
stehen.
Was ist demnach nicht Gegenstand der Entwicklungslehre?* Ihr
Gegenstand ist es nicht, den ersten Ursprung des Lebens auf Erden
zu erklären. Die Frage, ob wir Urzeugung oder Schöpfung für die
Entstehung der ersten Organismen annehmen müssen, ist ein natur-
philosophisches Problem, das bereits außerhalb der naturwissen-
schaftlichen Entwicklungstheorie liegt und nicht in sie hinein-
gehört. Das sind bereits metaphysische Probleme. Über diese
spreche ich im nächsten Vortrage; heute beschränke ich mich
auf die Entwicklungslehre als naturwissenschaftliche Hypothese und
Theorie.
Selbstverständlich ist diese Entwicklungslehre keine Erfahrungs:
wissenschaft; sie ist ein Hypothesengebäude, das zu einer
Theorie sich zusammenschließt. ‘Sie kann uns nur einen höheren
oder geringeren Grad der Wahrscheinlichkeit über die Vor-
gänge der Stammesgeschichte bieten; denn die Stammesentwicklung
ist nicht unmittelbar durch Beobachtung oder Experiment als Tat-
sache zu erschließen. Das kann ja auch nicht anders sein. Der
Mensch ist als Epigone aufgetreten am Schlusse einer Entwicklung
auf Erden, die Millionen von Jahren umfaßte. Nun schaut er rück-
wärts und findet nur noch höchstens Denkmäler, Trümmer, Spuren
vorausgegangener Entwicklungen. Die Stammesentwicklung selber
kann er nicht mehr schauen, er kann sie nur auf dem Wege der