Erster Vortrag. Die Entwicklungslehre als naturwissenschaftliche Theorie.
und innerhalb dieser Minute ist noch so eine kleine Sekunde, die
nach der Schätzung der Geologen allerdings Millionen von Jahren
umfaßt hat. Das ist die Geschichte der organischen Welt auf unserer
Erde bis zum Auftreten des Menschen. Durch die Fortschritte der
Zoologie und Botanik und namentlich durch die Fortschritte der
Paläontologie ist die Wissenschaft immer näher an die Frage heran-
gedrängt worden: wie steht es mit den Beziehungen der gegenwärtig
lebenden Tiere und Pflanzen zu den ausgestorbenen, fossilen Formen?
Haben wir die gegenwärtige Tier- und Pflanzenwelt als etwas Un-
veränderliches zu betrachten? oder sind die heutigen Tiere und
Pflanzen veränderte Nachkommen von früheren, großenteils
ausgestorbenen Vorfahren, die uns, zum Teil wenigstens, als Fossilien
aufbewahrt sind?
Auf diese Fragen sind zweierlei Antworten gegeben worden.
Die eine Antwort kommt von der Konstanztheorie (Beharrungs-
theorie), die sagt: die systematischen Arten !, wie sie heute in der
Zoologie und Botanik vorliegen, sind unveränderliche Größen. Die
Tatsachen bieten uns keine Beweise, daß Veränderungen der Arten
über die Artgrenzen hinausgehen; wir dürfen deshalb von keiner
Entwicklung der Arten auseinander, von keiner Stammesverwandt
Schaft der Arten untereinander oder mit früher lebenden Arten
Sprechen. Die Entwicklungstheorie dagegen sagt: wir müssen
die heutige Fauna und Flora, die heutige Tier- und Pflanzenwelt,
als das Endprodukt einer vorausgegangenen Entwick-
lung auffassen, gewissermaßen als die Endfunktion einer langen
Differential- und Integralrechnung der Natur. Das ist also die Frage-
stellung: hat eine Stammesentwicklung der organischen
Arten stattgefunden oder nicht?
Sie ersehen bereits hieraus, daß es völlig falsch wäre zu sagen,
diese Entwicklungstheorie sei eine Ausgeburt des Atheismus. Nein,
die Frage: besteht ein wahrscheinlicher stammesgeschichtlicher Zu-
1 Daß die Konstanztheorie in ihrer historischen Gestalt die Unveränderlichkeit
der systematischen Arten annimmt, ist jedem bekannt, der die Geschichte der
modernen Zoologie und Botanik kennt (siehe hierüber «Die moderne Biologie» 3 5, 261
303 315 etc.). Als Beispiele systematischer Arten nenne ich Löwe, Tiger, Jaguar
usw, innerhalb der Gattung Felis (Katze), Die Merkmale, durch welche die syste-
Matischen Arten sich unterscheiden, sind «wesentliche Merkmale» nur im empirischen,
Nicht im philosophischen Sinne, Deshalb führten einige Philosophen später den
Begriff der «natürlichen Arten» ein, welche mehr oder minder große Gruppen syste-
Matischer Arten umfassen, Diese Konstanztheorie ist jedoch, mit der historischen
Theorie von der Konstanz der systematischen Arten verglichen, bereits eine ge-
näßigte Entwicklungstheorie (vgl. ebd. S. 2904).