Zweiter Teil. Diskussionsabend,
Für die Lokalisation der höheren psychischen Funktionen, der
eigentlichen Geistestätigkeiten, auf bestimmte Bezirke der
Großhirnrinde fehlt aber bisher jeder zuverlässige Beweis. Ich
stimme hierin mit K. v. Monakow überein, welcher sagt, wir seien
hierin noch «über ein unsicheres Tasten auf der Hirnoberfläche nicht
hinausgekommen» (Ergebnisse der Physiologie III [1904], 2. Abt.,
S. 122). Die von Flechsig als «Denkorgane» bezeichneten Stellen
der Hirnrinde sind keineswegs als solche erwiesen. Obersteiner
(Funktionelle und organische Nervenkrankheiten: Grenzfragen des
Nerven- u. Seelenlebens II [1900]) sagt hierüber (S. 77) ausdrück-
lich: «Überhaupt sehen wir, daß den bekannten Rindenzentren
mit Sicherheit nur Leistungen auf mehr materiellem Gebiete zu
geschrieben werden können.» Und S. 78 bezeichnet er Flechsigs
«Entdeckung der Denkorgane» als einen nicht gelungenen Versuch,
der von anatomischer wie von physiologischer und klinischer Seite
angreifbar sei. Herr Dr Juliusburger hat somit mehr behauptet,
als er beweisen konnte, wenn er sagte, durch die Lokalisation der
Gehirnfunktionen sei der Beweis erbracht, daß unser höheres
geistiges Leben «keine einheitliche, sondern eine sehr
zusammengesetzte Größe» sei. Nur die niederen Hilfsprozesse
desselben sind bisher einigermaßen als lokalisiert erkannt worden.
Gegen die Existenz einer einfachen Seele hat er hiermit um so we-
niger etwas bewiesen, als sowohl die niederen wie die höheren
Seelentätigkeiten zu einer einheitlichen psychischen Ge
samtleistung sich verbinden.
Wir können diese Antwort kurz in den Satz zusammenfassen:
Das geistige Leben des Menschen ist als eine Summe
von Einzeltätigkeiten selbstverständlich keine eir
fache, sondern eine vielfach zusammengesetzte Größe
Aber das innere, substantielle Prinzip dieser Tätig
keiten kann nur ein einfaches, geistiges Wesen sein.
4. «Bei gewissen Geisteskrankheiten, zum Beispiel bei der soge:
nannten Gehirnerweichung, erkranken frühzeitig gerade die aller
feinsten seelischen Leistungen, sie gehen zu Grunde, und das soge
nannte niedere Seelenleben wird erst sehr spät ergriffen und bleibt
zum Teil erhalten. Ein anderes Beispiel: bei der melancholischen
Gemütsstimmung erkranken nur die wertvollsten seelischen Tätig
keiten.»
(Antwort auf Nr 4.) Juliusburgers Berufung auf die Erschet
nungen der Gehirnerweichung ist nicht zutreffend, beweist
jedenfalls nichts gegen die Einfachheit der Seele des Menschen-